Wieder einmal steht die beliebte Online-Enzyklopädie Wikipedia nach der Veröffentlichung einer Studie im Kreuzfeuer der Kritik. Diesmal wurde aber nicht versucht, die inhaltliche Richtigkeit von einzelnen Beiträgen zu untersuchen, sondern wie objektiv die in der Mitmach-Enzyklopädie enthaltenen Artikel sind. Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung lautet, dass Wikipedia gewisse Tendenzen zu Unausgewogenheit besitzt. Verfasst wurde die Studie von den US-Wirtschaftswissenschaftlern Shane Greenstein (Kellogg School of Management) und Feng Zhu (Marshall School of Business), die erste Studienresultate vorab auf der Jahrestagung der American Economic Association (AEA) im Januar 2012 vorgestellt haben. Klären wollen sie mit dieser Arbeit, inwieweit die auf Wikipedia veröffentlichten Einträge zu bestimmten Politikthemen in den USA inhaltlich ausgewogen und neutral sind.
Insgesamt wurden für diese Studie 70.668 Beiträge des Online-Lexikons im Januar 2011 daraufhin analysiert, wie oft spezifische politische Begriffe, die man einer bestimmten Partei zuordnen kann, enthalten sind. Bei 40,2% (28.382) dieser Artikel wurde mindestens ein solch parteipolitisch zurechenbarer Begriff gefunden. Bei knapp 3,68% der untersuchten Beiträge waren sogar mehr als 10 solcher Phrasen vorhanden. Weiterhin wurde untersucht, wie sich diese Verzerrungen im Zeitablauf entwickeln. Dazu wurden die einsehbaren älteren Versionen der Artikel ausgewertet. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die in Wikipedia enthaltenen Beiträge sich in ihrer Gesamtheit immer mehr einem neutralen Durchschnitt annähern. So gab es zu Beginn mehr Artikel mit Phrasen, die der demokratischen Partei zu zuordnen waren. Nun hat es ungefähr gleich viele Beiträge mit demokratischen und republikanischen Hintergrund. Dies ist für User sicher als positiv zu beurteilen, ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Der einzelne Artikel mit einer tendenziösen Ausrichtung verändert sich dagegen im zeitlichen Ablauf kaum mehr, d.h. die einseitige politische Ausrichtung bleibt bestehen.
Erwähnenswert in diesem Zusammenhang auch die teilweise heftige Reaktion in der Webgemeinde auf diesen Bericht. Viele Wikipedia-“Jünger“ scheinen mit dieser Studie ihre Schwierigkeit zu haben. Meist verwendetes Gegenargument ist „Es gibt keine Objektivität“, was pauschal gesehen natürlich richtig ist. Vergessen wird aber bei diesem vermeintlichen „Totschlag“-Argument, dass es durchaus unterschiedliche Grade von Subjektivität/Objektivität gibt, ansonsten könnte man gewisse Zeitungen wohl kaum den einen oder anderen politischen Lager oder auch keiner Partei zurechnen. Wenn Wikipedia aber Gefahr läuft, von gewissen Politikern oder Parteien für eigene Zwecke missbraucht zu werden, kann man das nicht mit einem einfachen Schulterzucken und dem obigen Mundtot-Argument ignorieren. Erwähnt seien hier nur die kürzlich vorgenommenen Manipulationen aus dem Lager des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Newt Gingrich, wo innerhalb weniger Tage mehr als 60 Korrekturen an dessen Wikipedia-Eintrag vorgenommen worden sind, um Gingrich in besserem Licht darzustellen.
Wikipedia mag zwar bei der Erstellung seiner Artikel so etwas wie demokratisch sein, d.h. aber nicht, dass sie nicht gefährdet ist, von Dritten für deren Zwecke missbraucht zu werden. Und da hilft es wenig, wenn man die Änderungen alle feinsäuberlich nach verfolgen kann und manche falschen Inhalte schnell wieder gelöscht werden. Wie viele Leser überprüfen ein Politikerprofil in dieser Form? Sicher nicht viele. Stattdessen sollte Wikipedia die in dieser Studie gefundenen Mängel als konstruktive Kritik aufgreifen, und vermehrt Artikel mit politischen Hintergrund oder Inhalten verstärkt kontrollieren.
Allgemein sind solche meinungsmachende Einflussnahmen in sozialen Medien ein äußerst wichtiges Thema, dem bisher in der Öffentlichkeit und der Forschung viel zu wenig Platz eingeräumt wird und das uns in den nächsten Jahren - dank dem wachsenden Erfolg von Web 2.0-Applikationen und sozialen Netzwerken - noch intensiv beschäftigen wird. Die Offenheit dieser Plattformen machen sie auch sehr anfällig für ungewünschte Beeinflussungen durch Dritte. Liest man sich von Zeit zu Zeit bestimmte Kommentare und Bewertungen auf politisch eigentlich unbedenklichen Online-Plattformen und sozialen Medien durch, befällt einen bei gewissen Themen der Eindruck, dass hier gute organisierte Interessensgruppen ihre eigentlich politischen Minderheiten-Meinungen breitgefächert unters Volk streuen wollen. Solche Manipulationen zu erkennen, sind nicht einfach, da die Kritik meistens noch mit anderen Argumenten verknüpft wird. Kommt dann bei dem unbedarften User, neben der fehlenden Informationskompetenz, noch Leichtgläubigkeit hinzu, ist die perfekte Manipulation, Gehirnwäsche oder Propaganda fertig. Gerade Informationsspezialisten sind hier gefordert, die mangelhafte Informationskompetenz des durchschnittlichen Internetusers zu verbessern, da dieses Thema wohl in Schulen oder Universitäten sich nicht einmal ansatzweise in den Lehrplänen findet.