Welchen Einfluss soziale Netzwerke inzwischen besitzen, konnte man am 23. April 2013 sehr gut am Chart des amerikanischen Börsenindex Dow Jones ablesen. Innerhalb weniger Sekunden brach der Index um knapp 150 Punkte ein. Auslöser war eine von Hackern mittels eines gekaperten Twitter-Kontos der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) verbreitete Mitteilung, dass es einen Terroranschlag auf das Weiße Haus in Washington gegeben habe. Die Nachricht war, wie wir inzwischen natürlich wissen, glücklicherweise falsch, hat aber gereicht, um die internationalen Finanzbörsen kurzzeitig kräftig durcheinander zu schütteln. Diese Meldung zeigt nicht nur, wie ferngesteuert die heutigen Finanzmärkte agieren, sondern wie wichtig gerade heute der Mensch zur Validierung solcher Nachrichten eigentlich wäre. Wäre deshalb, weil bisher kaum ein Umdenken in den globalen Unternehmen bezüglich des bedingungslosen Vertrauens in die von Computern gesteuerten Prozesse stattfindet. Ganz im Gegenteil, immer mehr wird die Analyse und die Entscheidung allein den Rechnern überlassen.
Die altehrwürdige Neue Zürcher Zeitung (NZZ) macht in diesem Zusammenhang in einem Kommentar zu diesem Twitter-Vorfall gleich Werbung in eigener Sache und verweist darauf, „… welchen Vertrauenswert solide recherchierter und faktenorientierter Journalismus an sich haben kann.“ Das ist natürlich nur allzu richtig. In diesen Tagen gedenken wir ironischerweise aber auch 30 Jahre Veröffentlichung der gefälschten Hitler Tagebücher durch den „Stern“, was zeigt, dass weder heute noch früher immer alle Fakten richtig durch die Presse und andere seriöse Medien recherchiert worden sind. Zugegebenermaßen ein ziemlich großer Bock, der damals geschossen worden ist, und sicher nicht unbedingt typisch für die allgemeine Arbeit von Journalisten. Aber es zeigt, dass auch der Mensch nicht vor Fehlern sicher ist. Das obige Gerücht über das gehackte Twitter-Account wäre zwar vermutlich kaum durch klassische, seriöse Medien verbreitbar gewesen, aber die ganze Angelegenheit hat so oder so nichts mit investigativem Journalismus zu tun. Soziale Netzwerke haben keine automatischen Informationsfilter, und die heutigen Finanzmärkte mit ihrem Hochfrequenzhandel lassen menschlicher Logik und Recherche eigentlich keinen Platz, da diese Vorgänge schlicht in Echtzeit ablaufen und für Menschen einfach zu schnell sind, und zu viele Informationen und Daten enthalten, die nicht geprüft werden können. In solchen Fällen nützt auch der beste investigative Journalismus nichts, weil er einfach zu langsam ist. Von daher greift der Kommentar der NZZ gerade bei diesem Beispiel ins Leere. Wichtiger wäre es, die allgemeine Entscheidungshoheit für solche Art Finanzgeschäfte wieder an den Menschen zurückzugeben, was derzeit aber kaum vorstellbar ist.
Ebenfalls kein Ruhmesblatt für die sozialen Medien war die (virtuelle) Jagd nach den Attentätern im Zusammenhang mit dem Anschlag auf den Boston Marathon. Hier wurden viele Unschuldige über die sozialen Netzwerke gnadenlos verfolgt. Dies zeigt, was so ein wildgewordener und unkontrollierter Bürgerjournalismus hervorbringt: Hysterie, falsche Verdächtigungen und im Endeffekt praktisch so etwas wie Lynchjustiz. Generell müssen sich hier Politik und Gesellschaft schnell Gedanken machen, ob und bei welchen Themen soziale Medien reguliert werden müssen.
Zurück zu dem NZZ-Kommentar. Die entscheidende Frage ist, ob die kleinen Informationsausschnitte, die eine „handvoll“ fähiger Journalisten tagtäglich aus der Unmenge an neuen Informationen und Nachrichten bearbeiten können, ausreichend sind, um ein halbwegs objektives Bild unserer Welt zu erhalten? Die Antwort dürfte eher „Nein“ lauten, weil erstens die Zeitungen immer mehr sparen müssen, zweitens auch immer weniger Leute schlicht Zeitungen lesen und drittens das Daten- und Informationsaufkommen eben viel zu groß ist.
Bibliotheken und anderen Informationseinrichtungen kommt daher vielleicht in den nächsten Jahren eine besonders wichtige Rolle bei der Prüfung und Verbreitung von validierten Informationen zu. Momentan mag dies von der Gesellschaft und Wirtschaft nicht erkannt werden, da sich der Grad der „Informationsverschmutzung“ noch im Rahmen hält, d.h. der Einzelne ist Dank Browser, Internet und Google in der Lage, momentan meistens selbst das Wichtigste oberflächlich zu recherchieren, und erhält mehr oder weniger zutreffende Informationen. Gerade die hier genannten zwei Beispiele zeigen aber auf, dass mit der Verlagerung der Informationshoheit von den klassischen Informationskanälen zu den sozialen Medien dies ab einem bestimmten Punkt nicht mehr sichergestellt sein dürfte. Wenn sich immer mehr Leute einen Spaß machen, Falschinformation zu verbreiten – und da sind die vielen, unabsichtlichen Falschinformationen nicht einmal mitgezählt – , wird es irgendwann schwierig werden, die Wahrheit von der Halbwahrheit oder der bloßen Lüge zu unterscheiden. Und die angeblich so vortreffliche Kontrollinstanz der sozialen Medien durch die Schwarmintelligenz ist wohl eher Wunschdenken, die bisher keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhält.
Quelle:
Leisinger, Christof: „«Twitter-Börsen» werden automatisch zu «Zitter-Börsen»“; in: NZZ Online, Meldung vom 24. April 2013, online abrufbar unter http://www.nzz.ch/aktuell/wirtschaft/reflexe/twitter-boersen-werden-automatisch-zu-zitter-boersen-1.18070594