Editorial 6-2022
Datum: 11. September 2022
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial

Alles Data oder was?

Es ist in der letzten Zeit sehr viel über die neue Berufsbezeichnung des Data Librarian geschrieben und diskutiert worden. Langsam kristallisiert sich dabei heraus, was es mit diesem neuen Berufsbild auf sich hat und welche Aufgaben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der Bezeichnung Data Librarian eigentlich übernehmen sollen. Auch die Kompetenzen werden klarer, einige Hochschulen haben sowohl einschlägige Ausbildungs- als auch Weiterbildungsstudiengänge rund um den Data Librarian im Programm (Data Librarianship: Aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen, S. 5-8 in diesem Heft).
Inwieweit es sinnvoll ist oder gar geboten, die Bezeichnung noch auszuweiten auf Begriffe wie Data Scientist oder Data Analyst ist dann zu vernachlässigen, wenn wir über einen ausschließlich bibliothekarischen Beruf und Bezug sprechen wollen.

Historisch betrachtet erkennt man aber schnell, dass Data Librarians in Bibliotheken schon sehr lange zum klassischen Berufsbild gehören. Sie wurden nur noch nie so genannt. Denn die Katalogisiererinnen und Katalogisierer, die in Bibliotheken die Inhalte seit Jahrhunderten erschließen, sei es formal oder sachlich, sind und waren auch Daten-Spezialisten. Sie haben Medien und deren Inhalte in formalisierte Organisationsschemata eingebracht und sie dadurch such- und findbar, klassifizierbar und nutzbar gemacht.

Es ist also keine Selbstverständlichkeit und kein Automatismus, dass sich ein Data Librarian im 21. Jahrhundert nur mit Forschungsdatenmanagement beschäftigen muss. Auch in vielen anderen Bereichen werden bibliothekarische Daten prozessiert und derartige Fachleute benötigt. Nicht zufällig haben viele Bibliotheken ihre Katalogabteilungen bereits in Metadatenteams umbenannt.

Vom Data Librarian ist allerdings der Data Steward zu unterscheiden. Diese neue Berufs- oder Funktionsbezeichnung rekurriert auf eine Gelenkstelle zwischen Wissenschaft und Bibliothek und soll dafür sorgen, dass die Forschungsdaten aus dem Wissenschaftsprozess möglichst problemlos in die Systeme der Bibliothek übertragen werden können. So wichtig diese Verbindungstellen zwischen Wissenschaft und Bibliothek auch sind, so wenig neu sind sie. Der klassische Fachreferent war und ist diese Gelenkstelle zwischen den beiden Welten, allerdings nicht in der heutigen Engführung des Blicks ausschließlich auf Forschungsdaten.

Das gegenseitige Verständnis und die Fähigkeit, Wissenschaft aus bibliothekarischer Sicht zu verstehen und zu unterstützen muss viel breiter und umfassender erfolgen, als es der klassische Fachreferent bei der Eruierung der Literaturwünsche getan hat oder als es der moderne Date Steward mit bloßem Fokus auf Forschungsdaten heute tut.

Die Prozesse von Wissenschaft und Forschung müssen von der Bibliothek von Anfang bis zum Ende der Wertschöpfungskette überblickt, verstanden und unterstützt werden. Dazu braucht es breit qualifizierte Personen, die sich gerade nicht nur auf einen kleinen Teil der Zusammenarbeit konzentrieren, sondern das große Ganze im Blick behalten.

Dass diese Funktionen und Aufgaben dann doch eher beim Fachreferenten zu suchen und einzufordern sind und nicht beim Data Steward, liegt auf der Hand.

Herzlich
Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.