Editorial 2-2022
Datum: 4. März 2022
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial

Der Wissenschaftsrat empfiehlt heute: Gold Open Access

Erst vor wenigen Wochen hat der Wissenschaftsrat in Deutschland ein Papier mit dem Titel „Empfehlungen zur Transformation des wissenschaftlichen Publizierens zu Open Accessˮ vorgelegt (Beitrag S. 27). Zentrale Aussage der Empfehlungen ist es, Gold Open Access als Standard für wissenschaftliche Veröffentlichungen zu verwenden. Nun ist der Wissenschaftsrat nicht irgendeine Arbeitsgruppe, die auch noch etwas zum Thema OA sagen will, sondern das zentrale Beratungsgremium der Bundesregierung und der Regierung der Länder seit 1957 und damit das älteste derartige Beratungsgremium in Europa überhaupt. Was der WR vorschlägt, wird wahrgenommen und hat Bedeutung.

Nach der zentralen Botschaft der Empfehlung sollen alle Publikationsmedien, die primär dem wissenschaftsinternen Diskurs dienen, in Open Access transformiert werden.1 Die Idee der freien Verfügbarkeit und Zugänglichkeit zu den Inhalten von Wissenschaft und Forschung ist dabei der Treiber. Diese Forderung ist nur allzu berechtigt, aber sie ist natürlich nicht neu. Denn Bibliotheken waren und sind Einrichtungen, die sich die Verfügbarmachung und Zugänglichkeit von wissenschaftlicher Information und Literatur nicht nur auf ihre Fahnen geschrieben haben, sondern es war und ist ihr Grundauftrag genau dafür zu sorgen.

Was bedeuten aber nun diese Empfehlungen des WR in der Breite?

Erstens bedeutet das Primat von Gold Open Access eine klare Absage an den Grünen Weg von Open Access, also das Publizieren und Archivieren von Veröffentlichungen etwa auf einem Institutional Repository der eigenen Institution, z. B. in der Bibliothek. Damit erteilt der WR den Hunderten von Wissenschaftlichen Bibliotheken, die bereits erfolgreich auf dem Grünen Weg unterwegs sind und in Infrastruktur und Personal investiert haben, eine klare Absage. Das ist eine sehr deutliche Aussage und man darf sich die Frage stellen, welche Konsequenzen damit für Bibliotheken in Deutschland verbunden sind. Green Open Access als eine verlagsunabhängige und neutrale Publikations- und Archivierungsmöglichkeit für wissenschaftliche Inhalte steht damit vor dem Aus.

Eine weitere Konsequenz im Primat von Gold Open Access betrifft die Bedeutung der Verlage. Es ist beruhigend, dass der WR damit die kulturelle und wissenschaftliche Mittlerrolle dieser Unternehmen in der Wertschöpfungskette der Wissenschaft anerkennt und deren Aufgaben für die Zusammenstellung, Strukturierung, Aufbereitung und Verbreitung von wissenschaftlichen Inhalten prinzipiell positiv bewertet. Allerdings wird die zu Recht beklagte Abhängigkeit der Wissenschaft von Oligopolstrukturen in der Verlagswelt dadurch keineswegs reduziert, im Gegenteil. Dem Drehen an der Preisschraube durch die Verlage bei der Festlegung der APCs sind beim Goldenen Weg genauso Tür und Tor geöffnet wie zuvor bei der Preisgestaltung der Lizenzen und Abonnements. Der WR empfiehlt dabei, die Verhandlungen mit den Verlagen idealerweise durch nationale Konsortien abwickeln zu lassen und führt als Beispiel DEAL an. Das irritiert nicht nur wegen des kaum als erfolgreich zu bezeichnenden Großprojekts in Deutschland, sondern zeigt auch, dass die Expertengruppe gewiss nicht von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren beraten wurde, die aus einer ,normalen’ Universitätsbibliothek kommen. Alleine die ETH-Bibliothek in Zürich, die sich ,nur’ als naturwissenschaftlich-technische Hochschulbibliothek bezeichnet (und damit kaum im Bereich der Literaturversorgung der Geistes-, Sozial- und Medizinwissenschaft aktiv erwirbt), unterhält – neben den Verträgen mit den fünf internationalen Großverlagen – Geschäftsbeziehungen mit mehr als 800 (!) weiteren Verlagen zur Sicherstellung der Informations- und Literaturversorgung. Eine konsortiale Abwicklung mit dieser Anzahl kleiner und mittelgroßer internationaler Verlage und deren hoch diverser Produktpalette ist weder vorstellbar noch umsetzbar.

Eine weitere Folge der WR-Festlegungen auf Gold Open Access als Veröffentlichungsstandard ist der Quasi-Verzicht auf gedruckte Publikationen. Gedruckten Werken, wie sie in durchaus noch relevanter Menge in den Geistes- und Sozialwissenschaften benötigt und gewünscht werden, wird die Existenz schwergemacht oder sie werden gar in den Sachbuchbereich abgedrängt.

Ob der WR diese Folgen in der gebotenen Breite ausführlich diskutiert und in Bedacht gezogen hat, darf bezweifelt werden. Womöglich ist das aber auch ein Ausdruck der Besetzung des Arbeitsgremiums, das in der Mehrheit aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des STM-Segments bestanden haben muss.

Wenn sich der WR dann auch noch (in einer grün unterlegten Empfehlung) stark macht für die Schaffung eines „Netzwerks deutscher Einrichtungen mit einer vollständigen Sicherung aller weltweit offen verfügbaren wissenschaftlichen Publikationenˮ2, fragt man sich sehr erstaunt, ob denn keiner der beteiligten Fachleute jemals das Prinzip einer Wissenschaftlichen Bibliothek verstanden hat: Bibliotheken bilden nämlich genau jenes Netzwerk für die Archivierung und Verfügbarmachung aller wissenschaftlichen Publikationen – und das seit vielen Hundert Jahren.

Quellen:
1 https://www.wissenschaftsrat.de/download/2022/9477-22.pdf, S.8
2 https://www.wissenschaftsrat.de/download/2022/9477-22.pdf, S. 82

Ich wünsche Ihnen eine anregende und spannende Lektüre.

Herzlich
Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.