ÖBs und WBs: Der kleine Unterschied
Wissenschaftliche und Öffentliche Bibliotheken haben nicht nur gemeinsame Wurzeln, sondern standen lange Zeit vor ähnlichen Herausforderungen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert haben Öffentliche Bibliotheken mit einem kundenorientierten, offenen Strategieansatz eine Richtung eingeschlagen, die den meisten wissenschaftlichen Bibliotheken völlig fremd erscheinen musste. Sie haben nicht nur ihre Bestände in Selbstbedienung geöffnet, sondern mit umfangreichen, differenzierten Angeboten und Dienstleistungen verschiedenste Bevölkerungsgruppen kundenspezifisch angesprochen. Das reichte in der Summe von Nutzergruppen aus dem Kindergarten bis ins Rentenalter und quer durch alle sozialen Schichten.
Dazu setzten die Öffentlichen Bibliotheken moderne, am Marketing orientierte Methoden ein. Wissenschaftliche Bibliotheken standen hingegen diesem Prozess lange staunend und anfangs überwiegend ablehnend gegenüber. Diese Haltung war auch darin begründet und begründbar, dass wissenschaftliche Bibliotheken als Teil des wissenschaftlichen Lehr- und Forschungsbetriebs lange Zeit eine Monopolposition besetzen konnten: Ohne die Nutzung der Bibliothek war weder ein wissenschaftliches Studium noch eine vernünftige wissenschaftliche Tätigkeit möglich. Das Werben um den Leser, das Anbieten von Leistungen und Diensten war unnötig und überflüssig.
Erst allmählich wurde klar, dass das Monopol langsam kippt. Im ausgehenden 20. Jahrhundert haben viele wissenschaftliche Bibliotheken ihre Leserinnen und Leser mit den Methoden der Öffentlichen Bibliotheken angesprochen und zu binden versucht. Sie haben viel von den ÖBs gelernt und ihnen in dieser Hinsicht viel zu verdanken.
Die vermutete Konvergenz von Öffentlichen Bibliotheken und wissenschaftlichen Bibliotheken hat allerdings mit der Entwicklung der Open-Access-Bewegung und der Transformation des Publikationssystems eine Umkehr erfahren. Wissenschaftliche Bibliotheken stehen heute vor Herausforderungen, die so in Öffentlichen Bibliotheken nicht existieren. Gleichzeitig stellen vor allem demografische (und teilweise auch technische) Veränderungen Öffentliche Bibliotheken vor neue Herausforderungen, die so in WBs nicht relevant sind.
In der Folge entfernen sich ÖBs und WBs in Teilen wieder voneinander, weil ihre Fragestellungen und Lösungen fast schon grundsätzlich anderer Art sind.
In dieser Ausgabe von Library Essentials haben wir Beiträge versammelt, die genau diese Dichotomie adressieren.
Während beispielsweise WBs den Herausforderungen von künstlicher Intelligenz in der Wissenschaft, bei der Erstellung von Publikationen und der Revolutionierung des Wissenschafts- und Lehrprozesses gegenüberstehen, kämpfen Öffentliche Bibliotheken nicht nur mit den Herausforderungen einer multikulturellen und multilingualen Gesellschaft, sondern auch mit den Nutzungs- und Ausleihmöglichkeiten von elektronischen Büchern. Beim E-Lending beispielsweise mühen sie sich schon seit vielen Jahren mit den Verlagen um eine akzeptable Lösung.
Ob sich die beiden Bibliothekstypen nun wieder voneinander entfernen oder doch eines Tages wieder aufeinander zubewegen, ist aber unerheblich. Alle Bibliotheken sehen sich radikalen Veränderungen in Gesellschaft und Technologie gegenüber und müssen sich in einem sich stetig verändernden Umfeld positionieren und Chancen nutzen.
Wir werden deshalb weiterhin den Markt aufmerksam beobachten und versuchen mit unseren Beiträgen, Ideen und Anregungen für Lösungen zu liefern.
Herzlich
Ihr Rafael Ball