Gekommen, um zu bleiben: Künstliche Intelligenz in Bibliotheken
Noch vor wenigen Jahren war es eine Ausnahme, wenn wir in Library Essentials einen Beitrag analysierten, der mit Künstlicher Intelligenz (KI) in Bibliotheken zu tun hatte. Doch hat sich das zwischenzeitlich grundlegend geändert. Es gibt nur noch wenige technische Anwendungen in und um Bibliotheken, bei denen die Technologie oder das Konzept von KI keine Rolle mehr spielt. So reflektiert auch die Auswahl unserer Beiträge die aktuelle Situation. In der vorliegenden Ausgabe sind neun Beiträge mit dem Thema KI verknüpft, das sind immerhin fast 50 Prozent aller Artikel dieser Ausgabe.
Auf einen ganz speziellen Beitrag möchte ich besonders hinweisen: „Neue Ansätze in der Bibliometrie in den Geistes- und Naturwissenschaftenˮ, https://doi.org/10.1007/s11192-024-05116-x.
Auch darin spielen KI und Algorithmen eine zentrale Rolle. Die Bibliometrie, deren Entstehung man auf die 1920er Jahre datiert und deren Weiterentwicklung insbesondere durch die Entwicklung des Science Citation Index und des Journal Impact Faktors durch Eugene Garfiled 1964 vorangetrieben wurde, hat heute eine umfangreiche, kaum mehr überschaubare Indikatorenwelt nach sich gezogen. Mit ihrer Hilfe werden Zitationszusammenhänge und Analysen des Publikations- und Zitationsprozesses umfangreich beschrieben. Die Krux der Bibliometrie besteht aber darin, dass sie immer nur den Output oder die Resonanz auf der Basis der erstellen Indikatoren messen kann, niemals aber die direkte Nutzung im eigentlichen Erkenntnisprozess. So bleibt eine unüberwindbare Kluft zwischen der Messung der Wahrnehmung etwa eines wissenschaftlichen Beitrags durch die Analyse der Zitationen und dem Einbau von Inhalten in das Wissensgebäude anderer Wissenschaftler. Es gilt die bekannte Weisheit, dass „kopiert noch nicht kapiertˮ und „zitiert noch nicht gelesen und verstandenˮ ist.
Der Beitrag in Scientometrics schildert nun ein Verfahren, dass diese Schwelle – wenn auch noch nicht aufhebt – so doch senken hilft: der neue Erwähnungsindex. Statt die Nutzung von externen Ideen im eigenen wissenschaftlichen Beitrag durch den mittelbaren Schluss über die Zitation zu belegen, analysiert das System des Erwähnungsindex die Nennung von Namen anderer Wissenschaftler im direkten Volltext, die eben nicht zitiert werden. Aber darüber hinaus wird auch die Nutzung und der Einbau von fremden inhaltlichen Konzepten nachgewiesen, ohne dass dies durch eine Zitation belegt wäre.
Damit geht der Erwähnungsindex deutlich über das klassische Zitationssystem der Bibliometrie hinaus und macht einen gewaltigen Schritt hin zu einer Gesamtanalyse des Inhalts eines wissenschaftlichen Beitrags oder Buchs und der Nutzung von Konzepten und Inhalten anderer Forscher darin.
Ausprobiert haben die Bibliometriker das an Texten der älteren englischen Philosophie. Der Nutzen dieser Methode besteht jedoch nicht nur darin, konkrete Nutzungen von Konzepten und Inhalten fremder Forscher in Texten nachzuweisen, sondern auch darin, die Bezüge der gegenseitigen Nutzung in (älteren) Texten nachzuweisen, die aus einer Zeit stammen, als das „saubereˮ Zitieren noch nicht allgemeine wissenschaftliche Gepflogenheit war.
Es ist beeindruckend, dass und wie sich durch neue Technologien immer wieder methodische und konzeptionelle Verbesserungen erreichen lassen, die den Erkenntnisfortschritt wie hier in der Erforschung der Wissenschaftskommunikation, vorantreiben.
Herzlich
Ihr Rafael Ball