Editorial 03-2024
Datum: 15. Mai 2024
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial

Merkt denn keiner, dass der Kaiser keine Kleider anhat?

Die Transformation des Publikationssystems hin zu Open Access und damit auch die Transformation aller beteiligten Stakeholder ist ein bemerkenswertes Phänomen. Waren die ursprünglichen Geschäftsgänge – wie Bibliotheken Geschäftsprozesse in einem etwas verstaubten Bürokratiedeutsch nennen – übersichtlich, einfach und klar geregelt, so scheinen sich hier in Zeiten der Transformation regelrechte Prozessorgien abzuspielen. Die digitale Disruption, die viele, wenn nicht sogar alle Felder des täglichen Lebens erfasst und transformiert hat oder noch transformieren wird, macht natürlich auch nicht halt vor der Welt der Wissenschaftskommunikation und es ist nur selbstverständlich, dass durch die digitalen Veränderungen auch die zugrundeliegenden Prozesse nicht nur digitalisiert, sondern auch verändert und angepasst werden.

Allerdings – und dies ist das Bemerkenswerte auf dem Markt der Wissenschaftskommunikation – vollzieht sich hier nicht nur die digitale Anpassung, sondern eine fundamentale Marktumwälzung. Über viele Jahrzehnte hinweg haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur ihre Inhalte, Forschungsthemen und Lehrinteressen frei bestimmen und auswählen können, sondern auch den Weg der Veröffentlichung frei bestimmt oder über die Marktmechanismen wirken lassen. Dies hat nun ein Ende gefunden. Forschungsförderer auf der einen Seite, politische Entscheidungsträger und Universitätsleitungen auf der anderen Seite bestimmen zunehmend über normative Vorgaben, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu publizieren und welchen Modus der Veröffentlichung sie dabei zu wählen haben. Handlungsleitend ist dabei nicht nur der Gedanke, dass man sich einem nicht mehr funktionierenden überteuren Marktgeschehen entziehen möchte, sondern auch und vor allem die Vorstellung, dass öffentlich finanzierte Forschung ihre Ergebnisse der Gesellschaft kostenlos und frei zur Verfügung stellen muss. Die Diskussion darüber, ob die freie Wahl des Veröffentlichungsmodus Teil der wissenschaftlichen Freiheit darstellt oder nicht, flacht ab, da ein Großteil der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich entweder den Forderungen der politischen Entscheidungsträger nach Open Access anschließt oder indifferent bleibt.

Problematisch bleibt diese Interessenkonstellation deshalb, weil wissenschaftliches Publizieren als internationales Business nach jeweils unterschiedlichen Regeln vollzogen wird, während der Produktions- und Verteilungsprozess der Inhalte global einheitlich sein soll. Beim nachvollziehbaren Versuch, sich dem kaum mehr steuerbaren Markt der Oligopole zu entledigen, sind Mechanismen entstanden, die durch normative Vorgaben der verschiedensten Seiten (Politik, Forschungsförderung, Wissenschaftsmanagement), eine an Unübersichtlichkeit kaum noch zu überbietende Gemengelage geschaffen haben.

Um sich als Beteiligte im Spiel zu halten, bemühen sich nun die Stakeholder ihrerseits, einen Teil dieser Vorgaben zu bedienen, sich öffentliche Gelder zu sichern und allerlei Geschäftsideen und Verfahren zu entwickeln (etwa die Agenturen und Zwischenhändler, aber auch Verlage und Bibliotheken).

Dabei ist es erschütternd zu beobachten, in welcher Form Prozesse, Verfahren und Geschäftsideen verkompliziert oder umständlich und enorm arbeitsaufwändig gestaltet werden müssen, um all jene Randbedingungen zu erfüllen, die für einen ursprünglich simplen Prozess gedacht waren: nämlich den Kauf eines Buches oder die Bestellung einer Zeitschrift.

Es gibt anscheinend nur wenige Beteiligte in diesem Umfeld, die sich einmal radikal die Frage stellen, was in dieser Branche eigentlich gerade passiert, wenn aus dem denkbar einfachen Vorgang der Beschaffung von Literatur und Publikationsleistung ein kaum mehr nachvollziehbares Konglomerat von Verfahren, Prozessen und Projekten entsteht, nur um allen staatlichen Vorgaben, die sich zudem noch ständig ändern, gerecht zu werden.

Man wird nachdenklich angesichts all der Kosten der Transformation, die auch die öffentlich Bediensteten aus Wissenschaft und Bibliothek in den scheinbar unendlich aufwendigen und komplizierten Verfahren, Meetings, Abstimmungsprozessen und Projekten verursachen. Es wird dereinst einmal interessant sein, die Vollkosten zu kalkulieren und dann vielleicht zu erkennen, dass der Kaiser keine Kleider anhat.

Herzlich
Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.