Der Zeitgeist und die Bibliothek
Moderne Techniken und innovative Technologien wurden in Bibliotheken schon immer eingesetzt. Warum auch sollten Einrichtungen, insbesondere wenn es sich um wissenschaftliche Bibliotheken handelt, auf jene zukunftsweisende Technik verzichten, die sich ihre Trägereinrichtungen als Universitäten und Hochschulen auf die Fahnen geschrieben haben? Ja, mehr noch: Oft waren es gerade die Bibliotheken, die als Innovationstreiber in Universitäten vorangeschritten sind und damit auch Meilensteine gesetzt haben.
Diese Diskussion wiederholt sich immer wieder dann, wenn neue Technologien oder Management- und Kommunikationsmethoden Einzug halten oder in der Gesellschaft diskutiert werden. Die ersten Vorreiter sehen bereits die Bibliotheken in Gefahr, da sie und ihre Aufgaben von künstlicher Intelligenz abgelöst werden könnten. Es wäre unklug und auch nicht angemessen, diese Aussagen mit einem Abwehrreflex vom Tisch zu wischen, genau wie es unklug und vorschnell wäre, das Ende der Bibliotheken zu prognostizieren, nur weil es heute Algorithmen gibt, die Entscheidungsprozesse bei der Suche und dem Finden von Inhalten und Daten vereinfachen. Trotzdem muss genau hinschauen, wer sich jetzt zum Vorreiter von KI macht, damit nicht ein lahmes Pferd gezäumt wird und die gut eingerittenen Rösser im Stall bleiben. Es reicht durchaus, wenn in Bibliotheken das Thema KI wahrgenommen und gerne auch ausprobiert wird, ohne deshalb gleich das Ende der vielen klassischen Aufgaben zu verkünden S. 8: (Yoon, JungWon; Andrews, James E.; Ward, Heather L.: „Perceptions on adopting artificial intelligence and related technologies in libraries: public and academic librarians in North America”).
Ganz ähnlich sieht es im Bereich des Marketings und der Kommunikation in Bibliotheken aus. Wir fragen in einem Beitrag in dieser Ausgabe, ob der Einsatz von TikTok und anderen sozialen Medien einer wissenschaftlichen Bibliothek angemessen ist oder eher nicht S. 12: (Alley, Adam; Hanshew, Jody: „A long article about short videos: A content analysis of U.S. academic libraries' use of TikTok”; in: The Journal of Academic Librarianship, 2022, Vol. 48, 102611). Tatsächlich ist das Abholen der Zielgruppen dort, wo sie sich befinden, für die Angebote wissenschaftlicher Bibliotheken zeitgemäß und kundenorientiert. Gleichzeitig besteht gerade im Umfeld der sozialen Medien die große Gefahr, dass sich Anbieter wie Nutzer sozialer Medien mit einer autoreferenziellen Selbstvergewisserung gleichsam in einer Blase bewegen, innerhalb derer klar zu sein scheint, dass die Bedienung und Nutzung dieser Kommunikationsmethoden absolut notwendig ist. Von außen betrachtet aber gibt es kaum Nachweise, dass die Akzeptanz und Nutzung von Bibliotheken durch ein intensives soziales Medienmarketing tatsächlich gesteigert werden kann. Anders als kommerzielle Unternehmen mit einfachen Konsumprodukten, die einen klaren Zusammenhang zwischen Medienkampagnen und der Umsatzsteigerung etwa ihrer Schokoriegel sehen (und sehen müssen), haben wir noch von keiner Bibliothek eine relevante Ausleihintensivierung nach einer sozialen Medienkampagne gehört. Die Rückmeldungen sind allenfalls punktuell, individuell und absichtserklärend. Aber auch mit zehn Likes und fünf Antworten, wie cool die Bibliothek denn sei, ist noch nicht bewiesen, was die Bibliothek wirklich auszeichnet.
Auch da gilt wie in der KI, dass man dabei sein kann und das Instrumentarium verstehen sollte, aber genau wissen muss, ob und wie intensiv es wirklich eingesetzt werden muss.
Vorne dabei sind noch lange nicht diejenigen akademischen Bibliotheken, die kurzatmigen Trends des Zeitgeistes nachlaufen, sondern diejenigen, denen es gelingt, über den Zeitgeist hinaus Jahrhunderte erfolgreich zu überdauern.
Herzlich
Ihr Rafael Ball