Editorial 9-2016
Datum: 3. Dezember 2016
Autor: Erwin König
Kategorien: Editorial

„Gremien sind verpönt“

Fast der Hälfte der deutschen Unternehmen fehlt eine digitale Strategie. So zumindest liest sich das vor wenigen Tagen in der Presse. So kurz vor dem deutschen IT Gipfel ist das sicher eine wichtige Botschaft und gleichzeitig eine der größten Herausforderungen für die Wirtschaft insgesamt. Dabei stehen die digitalen Disruptionen quasi vor der Tür und bedrohen ganze Branchen. Aber gleichzeitig lassen auch viele Unternehmen die digitalen Chancen nahezu ungenutzt liegen, obwohl man sie nur aufzuheben brauchte. Einige Beiträge der vorliegenden Ausgabe der Library Essentials machen dies deutlich.
Gut, dass zumindest die meisten Bibliotheken die digitalen Chancen erkannt und ergriffen haben und den Disruptoren Paroli bieten wollen. In diesen unruhigen Zeiten kann derjenige die digitale Disruption am besten meistern, der Bibliotheken so führt, als ob sie auf das eigene Geschäftsmodell angesetzt werden. Dann wird zumindest die Gefahr vermieden, dass man auf alte Stärken setzen und sie in die Zukunft fortschreiben will.

Eine besondere Herausforderung aber ist das Thema „Führung“ in der digitalen Wirtschaft, hier sind heute neue und teilweise ganz ungewöhnliche Ansätze gefragt. Denn immer wieder werden Führungskräfte ermahnt, doch genau zu sagen, wohin die Reise gehe und was konkret zu tun sei und wie die Strategie aussehe. Dabei muss klar werden, dass in den Zeiten der digitalen Disruption diese Fragen aber nicht so einfach wie noch vor 20 Jahren beantwortet werden können: „Mit der Digitalisierung verändert sich die Rolle der Vorgesetzten. Sie können nicht mehr wissen, wohin der richtige Weg führt. Ihre neue Aufgabe ist es, das Finden von Antworten zu organisieren“, schreibt Christoph Keese, der sich die Führungsmechanismen von digitalen Unternehmen im Silicon Valley ausführlich angeschaut hat.

So schreibt der Streamingdienst NETFLIX keinen Urlaub mehr für die Mitarbeiter auf und keine Anwesenheitszeiten. Und wo gearbeitet wird ist auch egal. Der -kreative Freiraum wird nicht verordnet, sondern ermöglicht. Führungskräfte -weisen nicht an, sondern hören zu, sie geben Macht und Kontrolle ab. Das Beispiel zeigt, wie es gehen könnte. Es zeigt vor allem aber eines: wie es nicht geht. Und das sind auch die im Bibliothekswesen überbordenden Gremien. Und darauf gibt die digitale Wirtschaft nur eine Antwort: „Gremien sind verpönt“.
Auch daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Nichts ist zeitraubender und ineffizienter als die unendlichen Gremien im Bibliothekwesen. Für den digitalen Change brauchen wir die meisten definitiv nicht mehr. Die digitale Revolution frisst nicht ihre Kinder, aber vielleicht unsere Gremien. Und das wäre schon einmal eine gute Nachricht.

Herzlich
Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.