Im Jahr 2000 veröffentlichte Brian Quinn einen einflussreichen Beitrag in der Fachzeitschrift "College & Research Libraries" zur möglichen McDonaldisierung (Anmerkung: in Deutschland würde man wohl von der Aldisierung sprechen) der wissenschaftlichen Bibliotheken. Im Rahmen einer Sonderausgabe zum 75. Geburtstag der Fachzeitschrift wurde dieser Beitrag aktuell nochmals abgedruckt und von der Autorin Karen P. Nicholson besprochen, d.h. was ist davon eingetroffen und was nicht? Die McDonaldisierung ist ein von dem US-amerikanischen Soziologen George Ritzer geprägte These, die besagt, dass sich viele Aspekte der Fastfood-Industrie in andere Branchen und andere Bereiche der Gesellschaft ausbreiten. Der folgende Beitrag widmet sich der Frage, ob diese These auch auf wissenschaftliche Bibliotheken zutrifft. Im Besonderen wird versucht herauszufinden zu welchem Grad man wissenschaftliche Bibliotheken als mcdonaldisiert bezeichnen kann, und welche Auswirkungen dies auf die Informationseinrichtungen hat.
Zuerst zu den wichtigsten Aussagen aus dem ursprünglichen Beitrag von Quinn aus dem Jahr 2000:
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Die McDonaldisierung hat vier Hauptkennzeichen: Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle.
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Effizienz beinhaltet die Beseitigung von unnötigem Zeit- und Arbeitsaufwand zum Erreichen eines vorgegebenen Ziels. Beispiele für diese Umsetzung sind Supermärkte oder die moderne Landwirtschaft mit ihrer effizienten Herstellung von Nahrungsmitteln.
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Um effizienter zu werden haben Bibliotheken beispielsweise mehrstufige Auskunftsdienste, Selbstverbuchungsmaschinen und von den Benutzern selbst durchgeführte Anleitungen/Schulungen eingeführt.
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Berechenbarkeit im Sinne von Ritzer heißt die Qualität von Produkten oder Dienstleistungen mehr in quantifizierbaren Einheiten (Anzahl der Kunden, Anzahl der täglich hergestellten Burger, Umsatzzahlen etc.) zu messen, als anhand qualitativer Merkmale wie Geschmack oder Qualität der verwendeten Nahrungsmittel. Folge dieser Berechenbarkeit ist, dass die Burger von McDonald und anderer Fastfood-Ketten in allen Ländern dieser Welt sehr ähnlich, wenn nicht gleich schmecken.
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In Bibliotheken findet sich diese Berechenbarkeit z.B. beim Bestandsaufbau, der stärker standardisiert wird. Folge davon ist, dass sich die Inhalte der Sammlungen von Bibliothek zu Bibliothek und von einem Bibliothekstyp zum anderen immer ähnlicher werden. Viele Informationseinrichtungen nutzen etwa die gleichen Verlage/Informationsanbieter. Diese bieten wiederum eine begrenzte Anzahl von zusammengestellten Buchpaketen sowie die gleichen Ressourcen für die individuelle Auswahl von Buchtiteln. Aber nicht nur die angebotenen Informationsprodukte vereinheitlichen sich in der Bibliothekswelt stetig, sondern auch die angebotenen Dienstleistungen. So haben Informationsspezialisten, die z.B. am Auskunftsschalter arbeiten, ähnliche Ausbildungsinhalte und/oder auch bei ihrer Einstellung in einer Bibliothek für diese Aufgabe gelehrt bekommen.
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Vorhersagbarkeit bedeutet, dass die Menschen oder Kunden wissen, was sie erwartet. Bei McDonald's oder anderen ähnlichen Ketten bedeutet dies, dass das angebotene Menü vorhersehbar ist und das Essen durchweg mittelmäßig ist. Dies gilt gleichgültig welches Schnellrestaurant man besucht. McDonald's Mahlzeiten sind vorhersehbar, weil sie überall gleiche Inhalte und die gleiche Zubereitung einsetzen.
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In Bibliotheken zeigt sich diese Vorhersehbarkeit z.B. bei den eingesetzten Prozessen und Verfahrensweisen, wie Materialien angefragt und geliefert werden. Fernleihe oder Dokumentlieferdienste sind inzwischen über alle Bibliotheken hinweg stark vereinheitlicht worden. Quinn bemerkt sogar, dass sich die verschiedenen Bibliothekskulturen angenähert haben, d.h. es gibt z.B. ein berechenbares Ambiente. So bieten viele wissenschaftliche Bibliotheken identische Programme wie "Kunst in der Bibliothek" an.
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Kontrolle meint bei McDonald's die Kontrolle über die Beschäftigten. Diese Kontrolle wird in erster Linie mittels Technologie ausgeübt.
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In wissenschaftlichen Bibliotheken betrifft die Kontrolle die über die Bibliothekare sowie die über die Bibliotheksbenutzer, d.h. Studenten und Fakultätsmitarbeiter. So werden in Bibliotheken mittels eines ausgeklügelten bürokratischen Systems zahlreiche Statistiken zu jedem einzelnen Bibliothekar und Benutzer gesammelt und ausgewertet.
Das Fazit von Quinn lautet, dass man unter Berücksichtigung der vier von Ritzer vorgeschlagenen Hauptkriterien für die McDonalidisierung - Effizienz, Vorhersagbarkeit, Berechenbarkeit und Kontrolle - man wissenschaftliche Bibliotheken in vielerlei Hinsicht als mcdonaldisierte Umgebungen bezeichnen kann. Dies trifft besonders auf große Universitäts- und Forschungsbibliotheken zu, die meist sehr komplexe Institutionen sind und die entlang bürokratischen Vorgaben organisiert und verwaltet werden.
Zwar anerkennt Quinn, dass es gewisse Vorteile hat eine gut organisierte und effiziente Arbeitsumgebung zu unterhalten. Andererseits bezeichnet er die bürokratische, mcdonaldisierte Umgebung in wissenschaftlichen Bibliotheken als einen Ausdruck von Irrationalität. Schließlich neigen solche mcdonaldisierte Bibliotheken nicht gerade zu Innovationen, gehen keine Experimente ein und zeigen allgemein als gesamte Organisation ein langsames Reaktionsvermögen. Insgesamt sei diese Art der Organisationsführung eine sehr kurzsichtiger Ansatz, mit dem kaum den Geist und die Herzen der Mitarbeiter erreichen werden können. Zudem verlieren sie dadurch den Kontakt zu den wirklichen Wünschen und Bedürfnissen ihrer Benutzer. Als Alternativen fordert er die Einführung von kreativen Praktiken, wie Humorräume, Spass-Clubs oder geheime Projekte ("Skunk Works").
Soweit die Kernaussagen und Schlussfolgerungen aus Quinns ursprünglichen Beitrag. Nicholson verweist bei ihrer Besprechung dieses Artikels zuerst darauf, dass der Beitrag von Quinn unter dem zeitlichen Kontext gesehen werden muss, indem dieser Beitrag entstanden ist. Durch die zunehmende Konkurrenz von Buchläden, Suchmaschinen und Informationsanbietern wurden Bibliotheken im Rahmen der damaligen bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Fachliteratur aufgefordert mehr kundenorientierte Ansätze zu verfolgen, d.h. die Kundenwünsche bestimmen hauptsächlich das Informationsangebot und die Dienstleistungen von Bibliotheken. Im Gegensatz zu der Meinung der Autoren dieser Fachartikel ist die Orientierung an den Vorgehensweisen und Modellen aus der Privatwirtschaft aber weder beispielslos noch revolutionär. Es ist vergessen worden, dass der Kapitalismus schon Ende der 1970er-Jahre einen Paradigmenwechseln von Massenproduktion zu Massenkundenorientierung vollzogen hat. Kennzeichen dieses Wandels sind Flexibilität, Prozessinnovation, schnelle Produktentwicklung und kurze Lebenszyklen sowie die Erstellung und Bearbeitung von Nischenmärkten.
Aus ihrer Sicht spiegelt die McDonaldisierung der wissenschaftlichen Bibliotheken den wachsenden Einfluss von Unternehmenszielen und -werten im öffentlichen Sektor basierend auf der neoliberalen Philosophie des New Public Managements wieder. Stichworte die einem hierbei einfallen sind Wettbewerb, Rentabilität, Risiko, Werte für Geld und Unternehmertum. Ausdruck dieses neuen Kapitalismus ist die Formung eines neuen Typ von Arbeiters, der hochgradig flexibel, vielfältige Fähigkeiten besitzt sowie bereits ist, alles für sein Unternehmen zu tun. Aus ihrer Sicht hat Quinn größtenteils den aktuellen Zustand der wissenschaftlichen Bibliotheken richtig vorhergesehen, die gekennzeichnet ist durch die hauptsächliche Beschäftigung mit Rechenschaftsberichten und Rentabilitätsberechnungen ("Return on Investment" - ROI).
Ähneln sich Bibliotheken heute wirklich mehr als vor 20 oder 50 Jahren? Sind sie zu standardisierten und innovationslosen öffentliche Einrichtungen verkommen, die nur auf ein möglichst gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis hinarbeiten? Wir stellen hier die Behauptung auf, dass dies nicht der Fall ist. Auch früher haben Bibliotheken sich an den Entwicklungen, Innovationen und Ideen anderer Bibliotheken orientiert. Ein großer Fehler in den Überlegungen von Quinn bezogen auf wissenschaftliche Bibliotheken ist, dass diese Informationseinrichtungen nicht zu einem einzigen, großen Konzern gehören, sondern von jeweils verschiedenen und voneinander unabhängigen Trägerorganisationen betrieben werden. Sie werden somit auch nicht zentral gesteuert und vereinheitlicht, wie es bei den einzelnen McDonalds-Filialen der Fall ist. Zudem ist McDonald's natürlich ein etwas spezieller Fall mit seinem sehr restriktiven Geschäftsmodell. Kritiker verweisen z.B. darauf, dass Ritzer es sich bei seiner Arbeit mit der Wahl eines Konzerns wie McDonald's etwas arg einfach gemacht hat. Schließlich gibt es ja noch unzählige andere Unternehmen. Wie passen z.B. Google, Facebook oder Apple aus heutiger in dieses Schema rein? Diese legen z.B. großen Wert auf Freiräume und eine innovationsfreundliche Umgebung für ihre Mitarbeiter und sind trotzdem sehr produktiv und effizient.
Bei der Besprechung von Nicholson an dem gegenwärtigen Zustand der wissenschaftlichen Bibliotheken sieht es etwas anders aus. Sie kritisiert, dass die Bibliotheken sich zu stark von neoliberalen Ideen aus der privatwirtschaftlichen Managementkultur leiten lassen würden, wodurch der eigentliche Zweck und Wert von Bibliotheken verloren geht. Nicht mehr die Vermittlung und Verbreitung von Wissen sowie die Ausbildung zu kritischen Denken der Studenten steht im Mittelpunkt. Diese Überlegung ist sicher nicht falsch, bzw. würde einen interessanten Ausgangspunkt bilden den Einfluss von Politik, Wirtschaft und Zeitgeist auf Bibliotheken vertieft zu untersuchen. Nur wer soll für Bibliotheken zahlen, wenn die öffentlichen Finanzen eines Staates, einer Kommune oder einer Universität dies aufgrund schwieriger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen nicht zulassen? So gesehen ist es verständlich, wenn die Träger einer Bibliothek fordern, dass auch Informationseinrichtungen sich gewissen Spar- und Effizienzzwängen unterwerfen müssen, genauso wie dies für Opernhäuser, Theater, Museen und andere kulturelle Einrichtungen auch gilt. Und ob man es will oder nicht, Bibliotheken konkurrieren eben auch mit anderen Angeboten, gleichgültig ob sie aus dem Internet kommen, ob es Dienste und Produkte von privaten Unternehmen sind, oder ob es die vielen Freizeitaktivitäten sind, aus denen die Menschen heute auswählen können. Werden Bibliotheken nicht in einem ausreichenden Maß benutzt, besitzen sie mittel- und langfristig ein Legitimierungsproblem. Auf der anderen Seite muss man Nicholson insoweit Recht geben, dass wir den Kontext - sprich die aktuellen Rahmenbedingungen - kritischer überdenken sollten, in dem wir neue Praktiken einführen und den Einfluss, den diese Rahmenbedingungen auf Bibliotheken haben.
Insgesamt erscheinen die Kritiken von Quinn und Nicholson an den wissenschaftlichen Bibliotheken und ihrem Zustand übertrieben und stark vereinfacht zu sein. Das ist aber oft das Problem bei Diskussionen, die kaum mit Fakten unterlegt sind. Ohne den beiden Autoren zu nahe treten zu wollen, aber in diesen zwei Beiträgen dominieren doch größtenteils sehr subjektive Vorstellungen und Weltanschauungen. So benutzt Nicholson relativ oft den Ausdruck "neoliberal" - und zwar in einem ausschließlich negativen Sinn - in ihrem Beitrag (insgesamt 10xMal), aber ohne zu definieren, was sie genau unter neoliberal versteht, bzw. wie Neoliberalismus definiert wird. So bleibt das Ganze aber eher eine Papiertiger-Diskussion. Weswegen z.B. Kosteneffizienz - wenn sie nicht ausschließliches Ziel einer Organisation ist -, eine negative Handlungsstrategie darstellen soll, ist nicht nachvollziehbar. Der sorgsame Umgang mit knappen Ressourcen ist keine Ideologie, sondern eigentlich eine Notwendigkeit. Trotzdem stellen beide Beiträge eine interessante, alternative Sicht der Dinge dar, die zum kritischen Nachdenken nicht nur über Bibliotheken anregen.
Aber wahrscheinlich hätten die Autoren besser die folgende Frage stellen sollen, als sich an einer mehr oder weniger offenen Kapitalismuskritik abzuarbeiten: Wie viel Betriebswirtschaftslehre verträgt die Bibliothek? Eine mögliche Antwort findet man in diesem Beitrag von Ulrich Naumann: http://userpage.zedat.fu-berlin.de/unaumann/Naumann_Betriebswirtschaftslehre-und-Bibliotheksmanagement-v1.pdf.
Quellen: Nicholson, Karen P.: "The McDonaldization of Academic Libraries and the Values of Transformational Change"; in: College & Research Libraries, 2015, 75th Anniversary Issue, Vol. 76, No. 3, 328-338, doi: 10.5860/crl.76.3.328, online verfügbar unter http://crl.acrl.org/content/76/3/328.full.pdf+html
Quinn, Brian: "The McDonaldization of Academic Libraries?"; in: College & Research Libraries, 2015, 75th Anniversary Issue, Vol. 76, 339-352, doi:10.5860/crl.76.3.339, online verfügbar unter http://crl.acrl.org/content/76/3/339.full.pdf+html
Schlagwörter: McDonaldisierung, Neoliberalismus, New Public Management (NPM), Rationalisierung, wissenschaftliche Bibliotheken