Editorial 9-2022
Datum: 29. Dezember 2022
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial

Das Primat der Inhalte

Lange Jahrhunderte waren Bibliotheken primär fokussiert auf die Inhalte ihrer Sammlungen. Diese haben sie in einem mehr oder weniger strukturierten Verfahren beschafft (Erwerbung), in ihren Bestand integriert, formal und sachlich erschlossen (Katalogisierung) und sie nach den je gültigen Benutzungsregeln ausgeliehen oder zum Lesen zur Verfügung gestellt (Benutzung). Schließlich war es noch die vornehme Aufgabe der Bibliothek, diese Bestände für die Zukunft zu erhalten (Archivierung).

All diese Aufgaben erfordern vom Bibliothekar entsprechendes Fachwissen gepaart mit einer meist intimen Kenntnis des Bestands und seiner Besonderheiten. Nicht nur die Ausweitung der Buch- und Zeitschriftenbestände zu einem „Massenbestand“, den ein Mensch alleine nicht mehr überschauen kann, sondern auch die Entdeckung der Selbstbedienung der Leser und Nutzer am Regal oder im Bibliothekskatalog haben zu einer Entfremdung der Nutzer und Bibliothekare vom Bestand geführt. Heute gibt es nur noch wenige ausgewählte Sammlungen in Bibliotheken, die von engagierten Bibliothekarinnen und Bibliothekaren betreut werden, welche mit diesen Beständen und ihren Besonderheiten bestens vertraut sind.

Die große Masse des Bestands ist heute nur noch mittels Metadaten verfüg- und erklärbar. Darüber ist insofern keine Klage zu führen, als die Zunahme der Veröffentlichungen gerade seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Lesern einen enormen Zuwachs an Inhalten beschert, der die Bedeutung von Bibliotheken durchaus vergrößern könnte.

Tatsächlich jedoch wenden sich im 21. Jahrhundert wissenschaftliche Bibliotheken zunehmend von der Vermittlung ihres eigentlichen Bestands ab und entwickeln stattdessen verschiedenste Dienstleistungen rund um Wissenschaft, Forschung und Studium. Auch das kann sinnvoll sein, stellt aber die Priorität der Inhalte und ihres Besitzes grundsätzlich infrage. Es erscheint womöglich dann sinnvoll, wenn die „Transformational Agreements“, die aktuell überall mit den großen und kleinen Verlagen geschlossen werden, dereinst erfolgreich sind und der größte Teil aktueller Inhalte aus Wissenschaft und Forschung frei und open access zur Verfügung steht und sich Bibliotheken um den Erwerb dieser Literatur nicht mehr kümmern müssen.

Tatsächlich jedoch keimen Zweifel auf, ob die Institution Bibliothek damit gut beraten ist, oder nicht doch verstärkt Inhalte-getriebene Aufgaben übernehmen sollte, etwa in der Beschaffung, Erschließung, Archivierung und Kuratierung auch und gerade flüchtiger Inhalte, um sie damit der Nachwelt für die wissenschaftliche Arbeit zu erhalten. Mögen die klassischen Verlagsprodukte künftig auch im Open-Access-Modus im Netz frei verfügbar und ohne Zutun der Bibliothek nutzbar sein, so gibt es seit der Etablierung der Sozialen Medien eine Vielzahl relevanter Inhalte, die genau in diesem flüchtigen Medium veröffentlicht werden und durchaus von großem Forschungsinteresse sein können.

Wie Webseiten, Posts und Blogs der verschiedenen Sozialen Mediendienste gesammelt, erschlossen und archiviert werden, ist aber noch lange nicht durchdacht und in der bibliothekarischen Community längst noch nicht hinreichend diskutiert (vgl. diese Ausgabe der Library Essentials „Trends bei der Archivierung sozialer Medien“, ab S. 27).

Dabei könnten diese Aufgaben eine neue und wichtige Refokussierung auf die Bestands- und Inhaltearbeit der Bibliotheken bedeuten.

Dieses kleine Beispiel zeigt deutlich: So schnell sollten sich (wissenschaftliche) Bibliotheken nicht von der Konzentration auf Inhalte verabschieden. Es gibt bei der Beschaffung, Erschließung und Archivierung von Inhalten für Bibliotheken stets neues und noch viel tun, und es braucht dazu die Spezialkompetenzen von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren.

Denn die vielgelobten Dienstleistungen werden – wenn es schlecht läuft – morgen schon von anderen Bereichen der Universität erbracht und dort angehängt, sollte es nicht gelingen, Notwendigkeit und Synergien der strukturellen Integration dieser Services in der Institution Bibliothek nachzuweisen.

Herzlich
Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.