Editorial 8-2021
Datum: 26. November 2021
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial

Open Access und kein Ende?

Die Open-Access-Debatte der vergangenen zehn Jahre scheint längst vorüber. Niemand zweifelt mehr an den Vorteilen der freien Verfügbarkeit wissenschaftlicher Informationen im Vergleich zu den hinter Paywalls verstecken Veröffentlichungen im „altenˮ Abonnement- und Lizenzsystem. Ja, man kann es fast nicht glauben, dass es einmal eine Zeit gab, in der Wissenschaftler ihre Artikel kostenlos bei einem Verlag einreichten und der Verlag seinen Gewinn über den Verkauf der fertigen Zeitschrift realisierte. Soweit die Oberfläche. Tatsächlich sind die lauten Stimmen der Open-Access-Bewegung bis auf wenige Ausnahmen weitgehend verstummt. Die Internetbeiträge mit den schwer erträglichen, immer gleichen Unterstellungen über die Verschwendung von Steuergeldern bei der Finanzierung internationaler Großkonzerne durch Lizenzgebühren für wissenschaftliche Zeitschriften hinter der Paywall sind verschwunden.

Ist die Transformation des Publikationssystems vom einstmals überteuerten Lizenzmodell zum kostengünstigen OA-Modell mit dem freien Zugang für alle also gelungen und abgeschlossen?

Nun, die Ruhe scheint trügerisch. Denn eine der wichtigsten Randbedingungen der Open-Access-Bewegung und all ihrer Propheten ist kaum erfüllt: Die Kostenneutralität. Die Open-Access-Bewegung hat die privatwirtschaftlich organisierten Verlage (ob national oder international) unterschätzt. Nach anfänglichem Stöhnen und Wehklagen über mögliche Verluste bei den Abonnements und Lizenzen haben die Unternehmen des freien Marktes die Geschäftsmodelle klug umgestellt und mit den neuen Open-Access-Modellen die Kosten für die Wissenschaft saftig in die Höhe getrieben. Wer wollte es ihnen verdenken, wir leben schließlich in einer freien Welt. Das Ergebnis ist offensichtlich: Die Preise für Produktion, Veröffentlichung und Verbreitung von wissenschaftlichen Inhalten sind für die öffentliche Hand eher gestiegen als gesunken. Zudem gibt es eine Reihe von Nebeneffekten, die Bibliotheken und Wissenschaftler jetzt nicht mehr in der Hand haben: Die Preisfestsetzungen und Preissteigerungen der APCs haben jene der klassischen Lizenzen schon überholt. Nicht wenige neue Verlage, die vorher niemand kannte, sind nur wegen des Geschäfts mit dem Gold-OA-Modell mittelmäßiger Veröffentlichungen entstanden und schöpfen wertvolle Mittel ab. Der OA-Tourismus blüht: Wer einen Mitautor aus einer finanzstarken Universität oder einem reichen Land mit guter OA-Förderung findet, schlüpft schnell unter dessen OA-Gebührendach. Die Planbarkeit von Bibliotheksetats ist dahin und, noch schlimmer, die Universitäten beginnen die Gelder aus den Bibliotheksbudgets in zentrale Töpfe oder gleich in die Fakultäten zu transferieren, wo dann die vielgelobte „verursachergerechteˮ Kostenallokation stattfinden soll. Ohne fachlichen Input, Branchenkenntnis, unabhängige Beratung und Koordination werden dann in den Fakultäten Gelder für das Publizieren nach „wissenschaftlichen Kriterienˮ verausgabt. Bei No-Deals mit großen Verlagen – einst als Wunderwaffe im Kampf gegen hohe Verlagspreise gerühmt und quasi als gewerkschaftlicher Boykott organisiert – entstehen stillschweigend bilaterale Nebenverträge und Parallelangebote mit den offiziell bestreikten Verlagen, an denen diese wiederum gut verdienen. Und die Verteilung der Kosten sogenannter Big Deals zwischen den Universitäten ist in vielen Ländern zum Dauerstreit geworden.

Ob das alles der geordneten, professionellen, unabhängigen und langfristigen Verbreitung und Sicherung der wissenschaftlichen Inhalte und Literatur wirklich dient oder ob man der Wissenschaft und den Bibliotheken damit einen Bärendienst erwiesen hat, wird sich erst in den nächsten Jahrzehnten zeigen. Die einstmals so lauten OA-Stimmen tun gut daran, nun leisere Töne anzuschlagen und eine (selbst-)kritische Zwischenbilanz zu ziehen. Auf den Seiten 15 und 18 präsentieren wir in dieser Ausgabe zwei einschlägige Beiträge zum Thema.

Herzlich
Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.