Editorial 7-2014
Datum: 25. September 2014
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial

Liebe Library Essential-Leser,

sind die klassischen Nachschlagewerke heute nicht „out“? Wer schlägt noch nach im guten alten Brockhaus, im Duden oder in der Enzyclopedia Britannica, wenn eine Information oder ein spezieller Zusammenhang gefragt sind?

Zugegeben, wir wissen auch als Informationsspezialisten nicht alles, aber wenn wir nachschlagen, dann nicht mehr in der Druckversion. Wie denn auch? Sollen wir in den Lesesaal rennen, in dem vielleicht noch einige gedruckte Referenzwerke von anno dazumal aufgestellt sind und vor sich hin stauben? Oder in den klassischen Katalogsaal, in dem einst die Katalogkästen samt aller gedruckten Referenzwerke quasi das analoge Zugangsportal zu den Beständen einer Bibliothek darstellten?

Nein, Referenzwerke und ihre wichtigen Inhalte möchten wir als Profis genauso wie unsere Kunden als Online-Portal. Enzyklopädien, Wörterbücher, Biographien und andere Nachschlagewerke werden heute zu Recht als Internet-Applikation erwartet. Ausgestattet mit professionellen Such- und Findefunktionen, 24 h Zugänglichkeit und medienbruchfrei in die eigene Arbeitsumwelt integrierbar.

Die Veränderung dieser Medienrealität bringt einen interessanten Aspekt mit sich. Viele Referenzwerke im Netz verzichten bei ihren Einträgen auf die Nennung eines Autors. Nach den klassischen Zitierregeln, nach denen immer ein Autor für das zitierte Werk zu nennen ist, ergibt sich hier ein Problem. So auch bei Wikipedia, die bewusst auf die Autorennennung verzichtet.

Wir berichten ab Seite 6 aus einer Studie zu diesem Thema (Beaubien Bennett, Denise: „The Ebband Flow of Reference Products“; in: Online Searcher, Vol. 2, July/August 2014, 44-52).

Aber, so muss man sich fragen, sind denn diese Zitierregeln nicht auch ein Kind der analogen Welt? Einer Welt, in der es noch einfach war, jede Veröffentlichung einem Autor zuzuordnen? Einer Welt, die noch auf die klare Zuordnung von Autor und Werk beharrte, während heute eine Generation herangewachsen ist, die auf Inhalte und nicht deren Urheber fixiert ist? In einer Zeit, in der die „Weisheit der Vielen“ dem Einzelwissen von Spezialisten überlegen ist, ist auch die Nennung von Urhebern in Referenzwerken kaum mehr von Bedeutung.

Entscheidet ist vielmehr, dass die Informationen, die wir finden und vermitteln korrekt und valide sind, nicht welcher Professor von welchem Lehrstuhl sie geschrieben hat. Diese Egozentrik haben wir doch alle lange hinter uns gelassen, oder?

Herzlich

Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.