Editorial 6-2020
Datum: 10. September 2020
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial
"Oh glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen.
Was man nicht weiß, das eben brauchte man und was man weiß, kann man nicht brauchen"
(Goethe, Faust I)

Bestandsmanagement: Was war das noch gleich?

Wer sich mit Bibliotheken und Informationseinrichtungen beschäftigt, seien es öffentliche oder wissenschaftliche Einrichtungen, kam zumindest in den vergangenen 2000 Jahren um das Thema Bestandsmanagement nicht herum. Denn die Frage nach den Beständen (und damit den Inhalten) einer Bibliothek war eines der zentralen Themen, mit denen sich viele Personen, Gruppen, Abteilungen bis hin zur Direktion intensiv beschäftigten; und zwar unter den drei Gesichtspunkten Qualität, Quantität, und Prozessen (Management).
Die Frage nach dem Umfang des Bestands hing dabei immer ab vom verfügbaren Platz für Aufstellung und Archivierung und vom verfügbaren Erwerbungsetat. Die qualitative Perspektive umfasste das große Thema der Auswahl der Literatur und der Inhalte, die Erstellung und Pflege eines Erwerbungsprofils sowie die sachliche Erschließung und gegebenenfalls die systematische Aufstellung.
Die prozessualen Aspekte betrafen die Formen der Erwerbung, ihre Verfahren (und aus der Kundensicht) die Verfügbarmachung und Ausleihe des Bestands.
All das waren Kernaufgaben und Kernfunktionen einer Bibliothek. Es ist selbstverständlich, dass es dazu eine ganze Reihe von Literatur und Veröffentlichungen, Vorträgen und Diskussionen gab. Diese Themen waren auch wichtiger Gegenstand in der bibliothekarischen Ausbildung.
Dies alles galt selbstverständlich nur uneingeschränkt in der analogen, gedruckten Bücher- und Zeitschriftenwelt. Deshalb habe ich diesen kleinen Text bis hierher im Präteritum geschrieben. Denn die Zeit des Bestandsmanagements und seiner Bedeutung scheint sich dem Ende zu nähern. Das Aufkommen der elektronischen Medien hatte zwar noch einmal einen neuen Schwung in die Diskussion des Erwerbungsmanagements gebracht und etwa neue Modelle der (automatisierten) Erwerbung entstehen lassen (wir alle kennen die verschiedenen Ansätze, von denen PDA der radikal kundengetriebenste war), aber danach wurde es um das Thema zunehmend still. Es ist aus Zeitschriften und Büchern, Kongressen und Weiterbildungen nahezu verschwunden. Zu sehr haben Big Deals einerseits und die OA-Bewegung, die den freien Zugang zu Literatur verspricht, andererseits die (intellektuelle) qualitative, gezielte Auswahl von Literatur und Information überflüssig erscheinen lassen. Wer von einem Big Publisher die ganze Datenbank kaufen muss (auch wenn man nur einen Teil davon wirklich benötigt), und wer hofft, dass OA künftig den kostenlosen Zugriff auf wissenschaftliche Literatur ermöglicht, kann auf aktives Bestandsmanagement verzichten. „The World is not enoughˮ war der Titel des 19. James-Bond-Films aus dem Jahre 1999 und das scheint heute auch für wissenschaftliche Literatur zu gelten.
Denn heute steht der ganzen Welt (und nicht nur der Wissenschaft) bald alles und jedes zur Verfügung. Wenn dann auch noch der Traum von Open Science in Erfüllung gehen sollte und damit wirklich jede wissenschaftliche Regung sofort, immer und überall kostenlos im Netz zur Verfügung steht, hat sich das Thema Bestandsmanagement erledigt. Dann verschmelzen Bestandsaufbau und -management in Bibliotheken mit der Google-Vision vom unbegrenzten Zugriff auf alles. „Oh glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen. Was man nicht weiß, das eben brauchte man und was man weiß, kann man nicht brauchen.“ Das ließ Goethe seinen Dr. Faustus sagen und erst heute wissen wir, wie es wirklich gemeint war. Denn ob es wirklich so hilfreich ist, auf eine gezielte, qualitative Auswahl und Fokussierung zu verzichten (und auch nur das zu finanzieren, was wirklich gebraucht wird) muss sich in den nächsten Jahrzehnten zeigen.
Wir haben in dieser Ausgabe von Library Essentials für Sie auf alle Fälle eine ganze Reihe von Beiträgen rund um die Frage zusammengetragen, was und wie Inhalte in Bibliotheken organisiert sein sollten.
Viel Freude und Anregung bei der Lektüre!
Herzlich
Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.