Editorial 3-2022
Datum: 3. Mai 2022
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial

Bibliothek, Geist und Freiheit

Der Umbau der Bibliotheken, vor allem der wissenschaftlichen, schreitet weiter voran. Die alte Vorstellung, dass die Bibliothek als eine feststehende Institution weder diskutiert noch grundsätzlich hinterfragt wird und in ihrer ursprünglichen Existenz unangreifbar bleibt, scheint vielfach überholt.

Statt einer inklusiven Systemvorstellung zerfällt die einstige Institution Bibliothek in eine Vielzahl von Einzeldienstleistungen. Darüber, ob die Summe dieser durchaus interessanten Einzeldienstleistungen noch die Institution Bibliothek ausmacht oder ob sie den Anfang einer – je nach Sichtweise – verhängnisvollen oder notwendigen Erosion darstellt, beginnt die Community gerade erst zu zaghaft ziemlich zu diskutieren.

Wenn aber neue Dienstleistungen angedacht werden und Teil der neuen Ausrichtung akademischer Bibliotheken sein sollen, dann müssen diese Dienstleistungen einen angemessenen akademischen Hintergrund aufweisen und gleichzeitig auf die Stärken des bibliothekarischen Knowhow aufbauen.

Die Gestaltung von Lernräumen beispielsweise ist nur dann ein genuin bibliothekarisches Feld, wenn sie mehr ist als Facility Management. Auch die Bearbeitung von APCs gehört nur dann zum bibliothekarischen Kerngeschäft, wenn sie über reines Controlling und Monitoring hinausgeht und auf die einstmals engen Beziehungen zwischen Bibliothek und Wissenschaft und auf den engen Konnex von Institutionen und Personen setzt. Nur wenn die intime Kenntnis der wissenschaftlichen Aktivitäten der Academia in die Waagschale geworfen werden kann (was voraussetzt, dass sie noch vorhanden ist), ist das Management von APCs ein Mehrwert für die Bibliothek und nicht die simple Übernahme von Kernaufgaben der Finanzbuchhaltung.

Sie lesen in diesem Heft ein weiteres Beispiel für mögliche neue Aufgaben: Die Auswirkungen elektronischer Medien in den Beständen der Bibliotheken sind bisher noch viel zu wenig untersucht. Zwar investieren Bibliotheken einen zunehmend größeren Anteil ihrer Erwerbungsmittel in digitale Inhalte, aber was mit dieser Medienform bei den kognitiven Vorgängen des Lesens und Verstehens geschieht, ist bei Bibliothekarinnen und Bibliothekaren weder genau bekannt, noch wird es bei der Erwerbungsauswahl berücksichtigt.

Nun sind Bibliotheken keine medienwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen oder neurologischen Abteilungen. Dennoch ist es für die Erwerbungspolitik – diesmal hinsichtlich der Medienform und nicht der Inhalte – zentral zu wissen, wie und ob die Medienform Einfluss nimmt auf die Lese- und Lernerfolge der Nutzerinnen und Nutzer. Bibliotheken haben immerhin 2000 Jahre empirische Erfahrungen über die Auswirkungen der Nutzung ihrer Inhalte und sie sollten auswählen dürfen.

Noch ein Thema, das für alle am akademischen Publizieren Beteiligten von größter Bedeutung ist, adressieren wir in diesem Heft: die sogenannten Predatory Journals. Die Verlage und Herausgeber solcher Zeitschriften nutzen die aktuelle Situation im Publikationsmarkt, um mit qualitativ grenzwertigen Angeboten (etwa mangelhaftes oder fehlendes Qualitätsmanagement) Geld zu verdienen, indem sie den Publikationsdruck in der Wissenschaft auszunutzen.

Dabei haben Bibliotheken schon immer ein Auge auf die Qualität der von ihnen beschafften Medien gehabt und entsprechend ausgesucht. Welcher Bibliothekar kennt nicht die Listen mit Verlagen, deren Inhalte irrelevant oder gar gefälscht waren und deren Namen sich nicht selten durch die Akkumulierung des Buchstabens „Aˮ ausgezeichnet haben? Diese Qualitätskontrolle haben Bibliotheken schon lange vor dem elektronischen Zeitalter ausgeübt und damit ihren Beitrag für Seriosität und Qualität geleistet. Auch jetzt im digitalen Zeitalter dürfen und sollten sich Bibliotheken auf diese alten Tugenden besinnen und Einfluss nehmen auf die Debatte um minderwertige Predatory Journals und den Umgang mit ihnen im akademischen Umfeld.

Und last not least zeigt die Abschaltung von elektronischen Netzen und Informationsmedien in Russland, wie wichtig auch die klassische Bibliothek mit ihren dauerhaft gesicherten Beständen geworden ist. Gewiss, gegen brutalen Vandalismus und Krieg sind auch gedruckte oder lokal gespeicherte Inhalte nicht zu sichern, aber die Geschwindigkeit, mit der der Zugriff auf Netzinhalte gestoppt wird, und die daraus entstehende Unmündigkeit all derer, die es nicht mehr gelernt haben, sich valide Information auch aus anderen Quellen zu beschaffen oder darauf keinen Zugriff mehr haben, zeigt, wie wichtig Institutionen sind, die Information und Inhalte dann vielleicht nicht mehr in Lichtgeschwindigkeit zur Verfügung stellen können, aber am Ende doch noch bestehen, wenn Social-Media-Kanäle abgeschaltet oder blitzschnell durch Fake News okkupiert worden sind. Mit ihren Inhalten sorgen sie dann für Stabilität, Neutralität und Kontinuität.

Bibliothek, Geist und Freiheit gehören noch immer zusammen; gerade in Krisenzeiten zeigt sich, wie wertvoll diese Trias noch ist.

Herzlich
Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.