Editorial 09-2023
Datum: 21. Dezember 2023
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial

Die beiden Seiten der Medaille

Die Open-Access-Bewegung war erfolgreich. Sie hat es vermocht, dass im Laufe von fast 30 Jahren ein Großteil der wissenschaftlichen Veröffentlichungen vor allem in Zeitschriften Open Access erscheinen konnte. Dieser Erfolg darf nicht kleingeredet werden, er ermöglichst den freien und kostenlosen Zugang zu einer riesigen Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen weltweit. Die unermüdlichen und fast schon klassischen Open-Access-Ideologen und Aktivisten aus der Anfangszeit sind deshalb auch inzwischen verstummt.

Das ist aber nur die eine Seite. Durch massiven Druck auf Verlage, Bibliotheken und Wissenschaftler im Gefolge der Open-Access-Bewegung entstanden nach einer kurzen Zeit des Übergangs gefestigte Businessmodelle der Verlage im Bereich Gold Open Access und Hybrid Open Access. Bezahlt wird nun immer weniger der Zugriff auf das Lesen der Inhalte, sondern stattdessen das Publizieren im Open Access Modus (APCs). Damit einher geht die Verschiebung der Verantwortlichkeiten der Stakeholder, vor allem die der Bibliotheken: Während das Abschließen von Abonnements oder die Verhandlung von Lizenzen der Vor-Open-Access-Zeit das ausschließliche Metier von Bibliotheken war, steht heute noch immer zur Diskussion, wer denn die APCs zu zahlen hat. Auch wenn es einigen Bibliotheken gelingt, aus dem Literaturbudget ein Informationsbudget zu machen, die Kostenstellen für Literaturbeschaffung und Publikationsunterstützung somit deckungsfähig sind und Bibliotheken damit auch für die APCs verantwortlich zeichnen, gibt es eine beträchtliche, leider kaum bestimmbare Summe an APCs, die als sogenannte „cost in the wild“ direkt von der Wissenschaft bezahlt werden. Die Vertragsabschlüsse mit den großen internationalen Verlagen sind den meisten Bibliotheken ohnehin aus der Hand genommen, sie werden in weit entfernten, politisch-normativ bestimmten Gremien weitgehend ohne Sachkenntnis entschieden.

In der Summe haben weltweit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (oder ihre Bibliotheken und Institutionen) mehr als eine Milliarde USD für APCs ausgegeben und damit die Marktmacht der fünf größten internationalen Wissenschaftsverlage eher zementiert als geschwächt (dazu unser Beitrag: Die fünf größten Wissenschaftsverlage verdienen immer mehr mit APCs, ab Seite 28).

Die Grundidee des freien Zugangs zu den Erkenntnissen und Ergebnissen der öffentlichen wissenschaftlichen Forschung ist damit kaum erreicht. Denn die Kosten, die dafür aufgewendet werden, sind eher gestiegen als gesunken und es hat sich erwiesen, dass eben nicht genug Geld im System ist, um die Wissenschaftskommunikation in all ihren Facetten ausreichend zu finanzieren.

Wenn die Bibliotheksetats nicht weiter steigen, dann werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eben nicht mehr ausreichend in OA-Zeitschriften publizieren können. Noch gravierender aber machen sich enge Bibliotheksbudgets da bemerkbar, wo die eigentliche Transformation zu OA stattfinden sollte: Bei der Förderung von Non-Profit-Initiativen, Experimentalsystemen oder Spinoffs, die sich neuen Formen und Formaten von Wissenschaftsveröffentlichungen und ihren möglichen Businessmodellen widmen. Diese Initiativen benötigen Geld und Ressourcen aus den Bibliotheken und ihren Etats. Wenn die aber eingefroren oder gar gesenkt werden und das Gros weitgehend in die Taschen der wenigen Verlags-Oligopole fließt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Open-Access-Bewegung auf halben Wege steckenbleibt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, auch in Namen der gesamten Redaktion ein erfolgreiches und kreatives Jahr 2024.

Herzlich
Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.