Herausforderung und Chance zugleich
Die Herausforderungen für die Bibliotheken der Zukunft kommen von allen Seiten. Die Disruption der digitalen Gesellschaft trifft die Bibliotheken und ihre Dienste und Angebote vor allem durch einen technologischen Sprung. An dieser Stelle wollen wir aber einmal nicht über die Künstliche Intelligenz als das Hype-Thema Nummer eins sprechen, sondern die Suchtechnologie in den Blick nehmen. Bibliotheken, seien es wissenschaftliche oder öffentliche, sind noch immer getragen vor ihren Beständen, die sie den Nutzerinnen und Nutzern zur Verfügung stellen. Als älteste Open-Access-Institution der Welt erwerben sie Angebote käuflich und machen sie als demokratischer Vervielfältiger allen Schichten der Gesellschaft kostenlos zugänglich. Das zeichnet Bibliotheken aus als unabhängige Institutionen: frei von eigenen und kommerziellen Interessen, ausschließlich im Dienste der Gesellschaft tätig, unabhängig und politisch neutral, mit einem Angebot vielfältiger Informationen und plattformunabhängiger Inhalte. Die Herausforderung in der Benutzung der Bestände liegt seit historischen Zeiten in klugen und leistungsfähigen Nachweissystemen der Inhalte, vulgo Katalog.
Kaum jemand spricht allerdings heute noch von der Qualität von Katalogen, denn längst ist der klassische Begriff abgelöst durch die Idee digitaler Suchmaschinen und ihrer ausgereiften Technologie. Das ist auch gut so, denn nicht nur die Nutzerinnen und Nutzer der Generation Z und der Millennials sind ganz auf digitale Suchsysteme eingestellt, die sie wie selbstverständlich und unhinterfragt einsetzen. Längst ist es ein Argument der Bibliothekarinnen und Bibliothekare geworden, dass ihre Bestände und Inhalte besser über die gängigen Suchmaschinen wie Google und Co. gefunden werden als über das eigene Nachweissystem, den Bibliothekskatalog. Dies ist insoweit nachvollziehbar und logisch, als ein Großteil der Inhalte über verschiedene Pipes zu jenen kommerziellen Suchmaschinen durchgereicht wird und damit auch such- und findbar zu sein scheint. Wozu also noch mit eigenen Systemen punkten wollen, die kompliziert und viel zu teuer sind und am Ende der gängigen Technologie der Digitalriesen ohnehin immer hinterherhinken?
Es gibt viele Gründe, diese Aussage zu bestätigen und sich bewusst abzuwenden von klassischen Bibliothekssystemen, denen meist noch immer die Optik und Haptik der Technologie der 1980er Jahre anhängt. Der Genauigkeitsanspruch der Bibliothekarinnen und Bibliothekare hat oftmals als Argument herhalten müssen, Google und Co. seien unzureichend für eine differenzierte Suche in den komplexen Beständen von Bibliotheken. Dieses Argument ist längst widerlegt. Nicht deshalb, weil Google einhundertprozentige Genauigkeit verspräche, sondern weil die Katalogsysteme der Bibliotheken längst nicht mehr so genau sind, wie man sich das erhofft oder schönredet, oder wie sie es vielleicht ganz am Anfang der Datenbank-Technologie tatsächlich noch waren, als jedes Buch per Hand eingetragen und ebenso wieder auffindbar gewesen ist.
Heißt das also, dass ab sofort die (oft teuren und ressourcenintensiven) Katalogsysteme der Bibliotheken abgeschaltet werden können und trotzdem alle Nutzerinnen und Nutzer glücklich sind? Leider ist es nicht ganz so einfach, denn auch die kommerziellen Suchmaschinen werden, wie neueste Studien zeigen, kontinuierlich schlechter. Is Google Getting Worse? (ab Seite 12)
Suchmaschinenoptimierung und bezahlte Werbung verzerren die Qualität der Suche und der Ergebnisse derart, dass sie kaum noch für die neutrale Auffindbarkeit von Inhalten – etwa aus Bibliotheken – verwendbar sind. Dies birgt also doppelte Tragik. Einerseits kann sich die öffentliche und wissenschaftliche Bibliothek nicht mehr auf die kommerziellen Suchmaschinen der Tech-Giganten verlassen, andererseits bringen die eigenen Katalogsysteme nicht die Leistung und Resultate, die sich Bibliothekarinnen und Bibliothekare erhoffen. Was bleibt in dieser Zwickmühle? Ganz offensichtlich die Benutzung des eigenen Verstandes und die Rückkehr zu den eigenen Kompetenzen: Die Verlässlichkeit, Sicherheit und Neutralität einer öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliothek ist nicht durch die Nutzung kommerzieller, scheinbar freier Systeme zu kompensieren. Die Entwicklung geeigneter Nachweissysteme in Bibliotheken ist nach wie vor Herausforderung und Chance zugleich, muss sie doch modernem Nutzerverhalten und zeitgemäßen Erwartungen entsprechen. Sie darf sich nicht abspeisen lassen mit den Technik-Resten einer Datenbank-Technologie der 1980er Jahre, die nur allzu oft im Kleid scheinbar moderner Such- und Katalogsysteme der kommerziellen Unternehmen daherkommt. Der Griff zu Open-Source-Systemen liegt auf der Hand. Aber auch hier gilt: Wer 1000-prozentige Korrektheit erwartet, wird sich auch mit Open-Source-Systemen übernehmen und am Ende Investitionen und Ressourcenbedarfe vor sich herschieben, die oftmals in keinem Verhältnis mehr zu den erwarteten Ergebnissen stehen. Es bleibt also spannend und herausfordernd, wie Bibliotheken ihre wertvollen Inhalte und Bestände so präsentieren und vermitteln können, dass bei möglichst geringem Ressourcenaufwand ein größtmöglicher Nutzen entsteht.
Herzlich
Ihr Rafael Ball