Editorial 10/01-2022/23
Datum: 30. Januar 2023
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial

Finden leicht gemacht?

Seit vielen Jahren ist es immer mehr Common Sense in der Bibliothekscommunity, dass das Auffinden von Literatur und Information nun nicht mehr das vordringliche Problem für Wissenschaft und Studium sei. Es gibt viele sehr gute und umfangreiche Suchsysteme, die schnell zum gesuchten Dokument oder zu der gesuchten Information führen. Tatsächlich haben sich die Interessen und Investitionen in Bibliotheken und Informationszentren längst entfernt von der Konzentration auf die Optimierung von Suchsystemen und der Lieferung und Bereitstellung von Literatur. Schon die Suche im eigenen Bibliothekskatalog wird nebensächlich, werden doch alle Metadaten kostenlos und offen verlinkt und in die internationalen Suchmaschinen wie Google eingespeist. Damit sind die Bestände der allermeisten Bibliotheken schnell und aus einer Hand zu finden, die Verlinkung führt dann direkt zur Ursprungsquelle und das Dokument kann über den jeweiligen Bibliothekskatalog bestellt oder gar als elektronisches Dokument direkt eingesehen werden. So weit ist das eine enorme Erleichterung für die Bibliothekskunden und Bibliotheken sind zu Recht stolz darauf, ihre Kollektionen möglichst breit bekannt zu machen.

Heute mischt sich in diese Freude aber immer mehr die Sorge darüber, ob denn das gefundene Dokument auch das richtige ist, also genau jenes, das man sich gewünscht hat, die richtige Ausgabe oder die passende Version. Jahrzehntelang war dieses Problem ein bibliothekarisches und es wurde von den leistungsfähigen und akribisch arbeitenden Katalogabteilungen gelöst. Die Titelaufnahmen in den Bibliothekskatalogen konnten aber deshalb so genau und zutreffend sein, weil das Ausgangsmaterial, etwa Bücher, Zeitschriften oder unselbständige Werke ebenfalls eindeutig waren und sich durch klar unterscheid- und benennbare Versionen oder Ausgaben und Auflagen unterschieden.

Diese hilfreiche Eindeutigkeit des Dokuments scheint inzwischen lange vorbei. Mit der Entwicklung der elektronischen Medien und der Möglichkeit, seine Inhalte etwa auf die eigene Webseite oder auf ein Repositorium zu legen, also mit der Möglichkeit, vom eigentlichen Originaldokument eine Preprint- oder Postprint-Version zu veröffentlichen, geht diese Eindeutigkeit des Dokuments verloren. Auf der diesjährigen APE-Konferenz (Academic Publishing Europe) in Berlin wurde etwa vorgeschlagen, die eigenen wissenschaftlichen Beiträge ins Netz zu stellen, um die Verlage (und Bibliotheken) zu umgehen und damit ein zudem noch offenes Peer Review zu ermöglichen. Genau diese Vorschläge erhöhen aber die Mehrdeutigkeit der Versionen, machen das korrekte Zitieren praktisch unmöglich und damit auch eine qualifizierte wissenschaftliche Auseinandersetzung auf der Basis eindeutiger Dokumente.
In dieser Ausgabe analysieren wir dazu einen Beitrag aus den USA (Cataldo, Tara Tobin et al.: Students’ Perceptions of Preprints Discovered in Google: A Window into Recognition and Evaluation, S. 6).

Es zeigt sich einmal mehr, dass bibliothekarische Genauigkeit keine Berufskrankheit von Bibliothekaren ist, sondern die Basis für professionelle, korrekte und qualifizierte wissenschaftliche Auseinandersetzung auf der Basis explizierter Inhalte. Nur so kann nicht nur gefährlicher Mehrdeutigkeit in der Wissenschaft begegnet werden, sondern auch Täuschung, Betrug und Fake News. Dies kann aber nur gelingen, wenn sich alle Stakeholder im Publikationsprozess darüber einig sind, dass der Professionalität von Verlagen und Bibliotheken mit ihrer Festlegung auf eindeutige Dokumente und mit eindeutigen Benennungen einem beliebigen Wildwuchs von „freiem Publizierenˮ im Netz der Vorrang gegeben wird.

Herzlich
Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.