Wissensverlust vermeiden beim Abgang von Wissensarbeitern
Datum: 15. Juni 2014
Autor: Erwin König
Kategorien: Fachartikel

Die demographische Entwicklung in vielen Industrieländern ist bezogen auf den potenziellen Abgang von älteren Wissensarbeitern besorgniserregend. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten werden immer mehr ältere Mitarbeiter in Rente gehen. In den USA, nur um ein Beispiel von vielen zu nennen, erreichten im Jahr 2010 25% aller Arbeitskräfte ein Alter, das ihnen generell das Anrecht gegeben hätte sich in den Ruhestand versetzen zu lassen. Dies hätte einen Mangel von 10 Mio. Wissensarbeitern in den USA zur Folge gehabt, wäre das Land und die gesamte Weltwirtschaft 2008 nicht in eine Rezession geglitten. So bald sich die Konjunktur weiter erholt, wird dieser Verlust an menschlichen Wissen für die Unternehmen aber deutlich spürbar werden. Wie man diesen Verlust an Wissen durch den Abgang von Mitarbeitern auffangen oder zumindest abfedern kann, versucht der folgende Beitrag aufzuzeigen.

Organisationen verlieren dabei Wissen

  • durch den Verlust eines Wissensbesitzers (z.B. Experten und Wissensarbeiter),
  • dadurch, dass sie nicht in der Lage sind, kritisches Wissen zu bewahren,
  • durch Fehler bei den Wissensspeichern (dies beinhaltet Ausfälle bei elektronischen, gedruckten und menschlichen Medienspeichern)
  • sowie einfaches Vergessen (entweder das Vergessen des tatsächlichen Wissens oder das Vergessen, wo dieses Wissen abgelegt worden ist).

Jennex (2006) erwähnt als ein besonders eindrückliches Beispiel vom verlorenen Wissen die US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA. Diese konnte nicht mehr erneut zum Mond fliegen - was sie eigentlich wollte -, da sie das Wissen verloren hat, wie eine Saturn V-Rakete und eine Apollo-Raumsonde gebaut werden. Die entsprechenden Experten mit dem notwendigen Wissen befinden sich inzwischen im Ruhestand oder sind gestorben. Außerdem sind im Laufe der Jahrzehnte entsprechende Wissens- und Datenspeicher mit den Bauplänen verloren gegangen.

Andererseits ist die einschlägige Human Ressource-Fachliteratur voll mit Veröffentlichungen, die sich der Frage widmen, wie man Beschäftigte - oder wie man heute so schön sagt: die besten Talente - anzieht und behält. Schließlich ist bekannt, welche Kosten die Ersetzung eines Mitarbeiters verursacht. TBORG (2011) schätzt z.B., dass es ein ganzes Jahresgehalt kostet, um einen Wissensarbeiter zu ersetzen. Diese Schätzung beinhaltet aber nicht einmal die Schulungskosten für diesen Wissensarbeiter. Piloten, Techniker, Ingenieure und Manager, um nur einige Berufe zu nennen, haben höhere Schulungskosten als ihr Jahreseinkommen beträgt.

Vernachlässigt werden dabei aber die Kosten für den Erfahrungs- und Wissensschatz, den ein scheidender Mitarbeiter besitzt. Welchen Wert haben das Wissen und die Erfahrung eines Mitarbeiters, der 10, 20, 30 oder sogar mehr als 40 Jahre für ein Unternehmen an einem strategisch wichtigen Projekt mitgearbeitet hat? Verstehen die Wissensorganisationen den Wert dieses Wissens? Der Autor dieses Beitrags geht davon aus, dass es sehr hohe Kosten verursacht, Wissensarbeiter sowie deren Wissen zu ersetzen. Nachfolgend wird untersucht, wie Unternehmen das Risiko den Wissensverlust durch einen Mitarbeiter bewerten und wie das Wissensmanagement eingesetzt werden kann, um diese Folgen auszugleichen. Nachfolgend wird ein risikobasierter Ansatz entwickelt, um mit dem Verlust durch einen Wissensarbeiter adäquater und erfolgreicher umzugehen.

Zuerst einige Begriffsbestimmungen:

  • Wissensarbeiter werden nach Davenport (2005) definiert als Arbeiter, die mit Denken ihren Lebensunterhalt verdienen und deren Hauptstärke ihr Wissen ist. Reinhardt et. al (2011) unterscheiden Wissensarbeit von anderen Formen der Arbeit dadurch, dass es sich hierbei um keine Routinearbeiten handelt. Die Haupttätigkeit ist stattdessen das Lösen von nicht-alltäglichen Arbeiten, mittels einer Kombination aus konvergenten, divergenten und kreativen Denkweisen.
  • Organisatorisches Wissen ist ein integraler Bestandteil von all dem, an das sich die Mitglieder einer Organisation erinnern und das sie einsetzen. Dies ist das nutzbare Wissen der Organisation.

Der Ansatz, der in diesem Beitrag vorgestellt wird, um das Risiko für den Wissensverlust durch den Abgang eines Mitarbeiters zu reduzieren, beruht auf der Bewertungsmethode für das Wissensverlustrisikos der internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Dies beinhaltet u.a. folgende grundlegende Schritte:

  • Bewertung eines Wissensverlustrisikos
  • Bestimmung der notwendigen Handlungen
  • Festlegen eines Ansatzes zur Erfassung von kritischem Wissen
  • Beobachtung und Prüfung.

Der vorgestellte Ansatz versucht nicht exakt, das Risiko eines Wissensverlusts zu messen. Vielmehr werden mit dieser Methode die Risiken eingeordnet und bewertet, so dass die Verantwortlichen abschätzen können, um welche Risiken sie sich zuerst kümmern sollen. Der Ansatz kann mittels der folgenden Risikoformel ausgedrückt werden:

R (Risiko eines Wissensverlusts der Organisation) = L (Wahrscheinlichkeit eines Verlusts des menschlichen Wissensträgers) x C (Wichtigkeit der menschlichen Wissensquelle) x Q (Qualität des menschlichen Wissensträgers)

Diese Bestandteile werden nachfolgend erläutert:

  • Risiko des Wissensverlusts (R)

Dies ist das Risiko für eine Organisation, wenn ein Mitarbeiter - aus welchen Gründen auch immer - das Unternehmen verlässt. Das Wissensverlust-Risiko lässt sich in drei Kategorien unterteilen:

  1. Sofortige Handlungen sind notwendig, um dieses kritische Wissen zu erfassen.
  2. Geplante Maßnahmen sind erforderlich, um kritische und/oder wichtiges Wissen zu erfassen.
  3. Keine besondere Handlungen sind erforderlich, um Wissen zu erfassen.
  • Bestimmung der Wahrscheinlichkeit für einen Mitarbeiterverlust (L)

Gründe für einen Mitarbeiter-Abgang sind der Ruhestand, Gesundheit (Krankheit oder Tod), Fluktuation (Wechsel zu einem anderen Unternehmen) und Jobwechsel innerhalb des eigenen Unternehmens. Das Risiko, dass ein Mitarbeiter ein Unternehmen verlässt, erhöht sich z.B. durch ein höheres Alter des Mitarbeiters, da die Wahrscheinlichkeit für eine Pensionierung - und damit der Verlust dieses Mitarbeiters - sich mit steigendem Alter natürlich erhöht. Weitere Faktoren für die Wahrscheinlichkeit eines Mitarbeiterverlusts sind Krankheit, Einzigartigkeit der Kenntnisse und des Wissens des Mitarbeiters, die Marktnachfrage nach Kenntnissen und Wissen, die Unzufriedenheit eines Mitarbeiters und die Anzahl der Dienstjahre. Für jeden dieser Faktoren lässt sich eine Wahrscheinlichkeit in Kombination mit dem jeweiligen Mitarbeiterprofil errechnen, was dann das Verlustrisiko des jeweiligen Mitarbeiters ergibt.

  • Folgen von menschlichem Wissensverlust (C)

Dies beinhaltet Faktoren wie die Leichtigkeit des Ersatzes dieser menschlichen Wissensquelle. Je einfacher ein Ersatz möglich ist, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Abgang ein hohes Risiko darstellt. Ein anderer Faktor ist die Anzahl der menschlichen Quellen, die ebenfalls dieses Wissen besitzen. Je mehr menschliche Wissensquellen das gleiche Wissen besitzen, umso geringer ist das Risiko, diese Wissensquelle zu verlieren. Daraus lässt sich z.B. eine 10-Punkte-Skala für die Konsequenzen eines Wissensverlusts durch einen Mitarbeiterabgang erstellen. Ein Beschäftigter, der zu den Schlüsselmitarbeitern der Organisation gehört, und keinen Ersatz hat, erhält etwa die höchste Punktezahl von 10 Punkten. 2 Punkte erhält in dem vorliegenden Beispiel ein Mitarbeiter, der seit 5 bis 20 Jahren in der Organisation beschäftigt ist, aber keine Schlüsselposition einnimmt oder sonstiges besonderes Wissen besitzt.

  • Qualität der Wissensressource (Q)

Die Qualität des Wissensträgers berücksichtigt Faktoren, die nicht von den Faktoren für die Wahrscheinlichkeit (L) oder den Konsequenzen (C) eines Verlustes wiedergegeben werden können, und somit die Fähigkeit Wissen zu erfassen beeinträchtigen. Dazu zählt etwa die Zeit, die vergangen ist, seit der Wissensträger sein Wissen erworben hat.

Der Verlust von Wissen durch den Abgang eines Mitarbeiters betrifft nicht allein große Unternehmen, sondern jedes Unternehmen und sogar gesamte Volkswirtschaften. Schließlich leben wir ja in einer Wissensgesellschaft und einer Wissensökonomie. Mit diesem drohenden Wissensverlust umzugehen, gehört damit zu einer wichtigen Aufgabe des Wissensmanagements. Der vorliegende Beitrag zeigt, dass es möglich ist, ein System zu entwickeln, um zu bestimmen, wie hoch das Risiko eines Wissensverlusts ungefähr ist, und welches Wissen bei einem Abgang eines Mitarbeiters höchstwahrscheinlich verloren geht. Aus diesen Erkenntnissen kann eine Organisation wiederum schon vorher entsprechende Maßnahmen ableiten, um dieses Wissen zu erfassen oder anders zu bewahren.

Quelle: Jennex, Murray Eugene: "A Proposed Method for Assessing Knowledge Loss Risk with Departing Personnel"; in: VINE, 2014, Vol. 44, No. 2

Schlagworte: Mitarbeiter, Risiko, Unternehmen, Wissensarbeiter, Wissensmanagement, Wissensorganisation

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