Editorial 8-2020
Datum: 24. November 2020
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial

„Know your customer – Kenne Deine Kunden!ˮ

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Aussage ist eine Vorschrift zur Legitimationsprüfung bei Banken und Versicherungen und soll Wirtschaftskriminalität vorbeugen. Zum Glück haben wir es in Bibliotheken und Informationseinrichtungen sehr selten mit Wirtschaftskriminellen zu tun. „Kenne Deine Kundenˮ ist für unsere Branche also eher kein juristisch-kriminalistisches Thema zur Abwehr von Missbrauch, sondern eine notwendige Basis für die Entwicklung kundengerechter Angebote. Denn wer Produkte und Dienstleistungen an Mann und Frau bringen möchte, muss sich nicht nur in der Art der Angebote (und vielleicht im Preis) von seinen Wettbewerbern unterscheiden, sondern idealerweise auch seine Kundinnen und Kunden bestens kennen. Denn nur wer auf dem vielfältigen (und umkämpften) Informationsmarkt seine Kunden mit genau zugeschnittenen Angeboten bedient, darf erwarten, dass er erfolgreich ist. Angebote „von der Stangeˮ verbieten sich ebenso wie andere Massenprodukte, die einfach auf den Markt geworfen werden und bei denen die Menge allein die notwendige Marge erzielen kann. Das hat in Bibliotheken noch nie funktioniert und es wird auch in Zukunft nicht funktionieren. Dazu sind Bibliotheken weder geschaffen worden, noch entspricht es Struktur und Auftrag von Bibliotheken und ihren Angeboten.

Stattdessen brauchen wir in Bibliotheken und Informationseinrichtungen kundengenau konfektionierte Services und Bestandsangebote (sogenannte tailor-made products). Doch dazu muss man seine Kunden sehr gut kennen, ihren wirklichen Bedarf ermitteln, aber ebenso Vorlieben hinsichtlich der verschiedensten Erwartungen zu Format, „Darreichungsformˮ und Gestaltung der Angebote in Erfahrung bringen.

Denn Bibliothekskundinnen und -kunden werden auch in anderen Bereichen ihrer Lebenswirklichkeit zunehmend umworben mit angepassten und zielgenauen Angeboten; die Erwartung an die Services der Bibliotheken sind entsprechend gestiegen. Weder unspezifische Angebote für jeden und alle noch „0815ˮ-Services kommen da beim Kunden gut an.

Doch Bibliotheken haben längst gelernt, kundenorientiert oder gar kundenzentriert zu denken und zu arbeiten, sie tun dies überaus klug, mit großem Engagement und zunehmender Begeisterung.

Gleichzeitig (und zum Glück) haben wir heute mehr Möglichkeiten denn je herauszufinden, welche Kunden- und Anspruchsgruppen es gibt, welche Lebensmodelle und welches Anspruchsverhalten in der Gesellschaft existieren und wer die Bibliothek nutzt oder auch nicht.

Das ist gut so, denn diese Studien helfen zu ermitteln, worauf sich Bibliotheken konzentrieren können und konzentrieren müssen (und worauf vielleicht auch nicht), und wie sie den Erwartungen der verschiedenen Lebenswelten der Menschen mit ihren Angeboten und Diensten begegnen können.

Wir referieren in der vorliegenden Ausgabe der Library Essentials gleich fünf Studien, die helfen können, die jeweiligen Kundensegmente und Anspruchsgruppen zu identifizieren und ihre jeweiligen spezifischen Bedürfnisse zu ermitteln.

Zunächst schauen wir uns an, wie die sogenannte „User Experienceˮ in Bibliotheken umgesetzt wird („Can user experience research be trusted?ˮ), dann analysieren wir den Bericht des dbv zur Lage der Bibliotheken und eine Umfrage zur Einschätzung ihrer Bedeutung (bei der immerhin die stolze Zahl von 75 % der Befragten die Bibliotheken als Kultur- und Bildungseinrichtung für unverzichtbar halten), den „Bildungsbericht Deutschlandˮ und eine SINUS-Studie zur Bildung in Deutschland aus den Lebenswelten von Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren („Wie ticken Jugendliche 2020? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14-17 Jahren in Deutschlandˮ) sowie eine „infratest dimap-Umfrageˮ zum aktuellen Vertrauen in die klassischen Medien.

Sie sehen, eine ganze Menge guter Grundlagen für das Herausarbeiten spezifischer Kundenprofile und Anspruchsgruppen. Der Ansatz „Kenne Deine Kundenˮ kann also viel Spaß machen und ist weit weniger gefährlich als die Legitimationsprüfung neuer Kunden bei Banken und Versicherungen. Viel Erfolg beim Analysieren!

Herzlich

Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.