Editorial 4-2016
Datum: 24. Mai 2016
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial

Die Bibliothek der Zukunft und ihre Themen

In nur fünf Jahren ist es einem einzigen Portal gelungen, die altehrwürdige Institution Bibliothek zu ersetzen. So zumindest könnte man die Erfolgsgeschichte des Portals Sci-Hub interpretieren. Im Jahre 2011 hat die Studentin Alexandra Elbakyan aus Kasachstan aus Verärgerung über die hohen Zeitschriftenpreise wissenschaftlicher Verlage das Portal gegründet und alle verfügbaren wissenschaftlichen Zeitschriftenartikel hochgeladen und zum kostenlosen Download zur Verfügung gestellt. Heute findet man dort mehr als 49 Millionen Artikel, monatlich sollen eine Million dazukommen.

Dass der Betrieb des Portals illegal ist und Elbakyan dabei Urheberrechte der Verlage verletzt (was wir definitiv nicht gutheissen), soll zunächst einmal außen vor bleiben. Mehrere Großverlage klagen dagegen - allerdings bis jetzt erfolglos.

Für Bibliotheken ist diese Erfolgsstory jedoch deshalb von so großer Bedeutung, weil sie zeigt, was die große Masse der (Natur)Wissenschaftler heute braucht: Unkomplizierten, direkten und möglichst niedrigschwelligen Zugang zu elektronischer Information. Das ist soweit eine Binsenweisheit und wird in jedem Anfängerkurs für Bibliothekswesen gelehrt und reflexartig von jedem Bibliotheksdirektor wiederholt. Wenn aber ein illegales Portal bereits in seriösen Studien in den Zeitschriften ,,Science" und ,,Nature" ausführlich diskutiert und analysiert wird, muss Großes dahinterstecken: 11.000 Leser der Zeitschrift ,,Science" haben sich zur Nutzung von Sci-Hub geäußert. Mehr als die Hälfte hat das Portal bereits benutzt. Allein in den letzten 6 Monaten von September 2015 bis Februar 2016 gab es 28 Millionen Downloads von Nutzern aus aller Welt. Lediglich 4% der Anfragen blieben erfolglos, 96% der Anfragen an das Portal führten zum Erfolg.

Für Bibliotheken schockierend muss auch das Ergebnis sein, dass 37% der Sci-Hub Nutzer dieses illegale Portal nutzen, obwohl sie gleichzeitig legalen Zugriff auf die Inhalte über ihre Bibliothek haben. Wenn zudem 20% aller Sci-Hub Nutzer den Zugang zum Portal einfacher empfinden als den Zugang zur eigenen Bibliothek, müssen sich Bibliotheken ob ihrer viel beschworenen Benutzerfreundlichkeit Gedanken machen.

Das tun wir in dieser Ausgabe von Library Essentials ausführlich, ist doch die Frage nach der Bibliothek der Zukunft ein Dauerthema, insbesondere seit die Bibliotheksnutzer echte Alternativen haben und das Informationsmonopol der Bibliotheken (nicht nur durch illegale Portale) gekippt ist. Wir analysieren Beiträge, die sich dieser Themen annehmen und beleuchten, welche Aspekte dabei von Bedeutung sind: Was sind mögliche Zukunftsaufgaben von Bibliotheken? Wie ist ihr Selbstverständnis? Welches Rollenverständnis haben Bibliothekarinnen und Bibliothekare? Warum kommen Nutzer in eine Bibliothek? Wandelt sich die Bibliothek von der Büchersammlung über einen Servicedienstleister hin zu einer WEB 2.0 - Plattform? Werden die Leistungen der Bibliothek, die bisher eher entlang einer Einbahnstraße von der Bibliothek zum Kunden erbracht werden, zu einer multilateralen Austauschplattform?

All das ist Input zu einer der wichtigsten und nicht abschliessenden Diskussionen über die Zukunft der Bibliotheken.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Lektüre und eine angeregte Diskussion.

Herzlich
Ihr Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.