Editorial 3-2016
Datum: 22. April 2016
Autor: Rafael Ball
Kategorien: Editorial

Das Wissen lebt: „Living Knowledge“ in der British Library

Wenn die British Library im Jahre 2023 ihr Fünfzigjähriges Bestehen als Nationalbibliothek des Vereinigten Königreichs begehen wird, dann soll das mit einem gewaltigen Slogan gefeiert werden: „Living Knowledge“ heisst die Strategiekampagne, die jüngst losgetreten worden ist und die der Direktor der Britischen Nationalbibliothek, Roly Keating, auf seinen Vorträgen werbewirksam und überzeugend verkauft.

Völlig andächtig hört man sich diesen Slogan an und denkt schon fast, dass das doch tatsächlich ein Knüller der British Library sein muss, so überzeugend klingt das im ersten Moment. Doch dann gerät man ins Nachdenken: „Living Knowledge“, was ist das denn eigentlich? Bibliotheksbestände als „Living Knowledge“ anzupreisen ist elegant, aber was soll damit genau gemeint sein? Sind nicht alle Bibliotheksbestände „Lebendiges Wissen“? Oder gibt es etwa doch „Dead Knowledge“, also „Totes Wissen“ in unseren Bibliotheken?

Ganz offensichtlich, sonst wäre die Kampagne von „Living Knowledge“ doch nichts Besonderes und schon gar nicht ausgedacht von den Marketingfachleuten einer solch wichtigen und bedeutsamen Nationalbibliothek. Also, so muss man daraus schliessen, hatte auch die British Library bis vor kurzem noch „Totes Wissen“ in ihren Magazinen und Regalen, das sie jetzt – rechtzeitig zum Jubiläum – wieder auferweckt und zu „Lebendigem Wissen“ machen will.

Gut so! Denn es gibt auch in allen anderen Bibliotheken noch vieles Unentdeckte und Unerforschte (das hört sich doch wesentlich besser an als „Totes Wissen“), das nur darauf wartet entdeckt zu werden. Und das ist dann vielleicht der eigentliche Job der Bibliothekarinnen und Bibliothekare und der Informationsfachleute: Dinge erfahrbar und entdeckbar zu machen. Das Entdecken des Wissens selbst – und ich bleibe dabei – ist die Aufgabe der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Nutzer und Leser. Aber – um im Englischen zu bleiben – als „enabler“ sind die Bibliotheken durchaus gefragt. Gerade wenn es darum geht, aus toten Beständen, die in den Regalen und Magazinen stillschweigend gehortet werden, lebendiges Wissen zu machen.

Dass dieser Prozess verschiedenste Formen annehmen kann, das sehen Sie in den Beiträgen des vorliegenden Hefts von Library Essentials: Die Anwendung von Social Media-Kanälen, Lärmreduzierung in Bibliotheken, Informationsnutzung oder Strategien zur Langzeitarchivierung sind nur einige Beispiele zum Thema.

Und wer als Bibliothek „Living Knowledge“ zu seinem Programm macht, hat offensichtlich die Grösse von sich zu behaupten, dass nicht alles, was so im Laufe der Jahrhunderte gesammelt worden ist, zu jeder Zeit der absolute Knüller war. Freilich gelingt das nur den Entspannten unter den Kollegen. Die British Library gehört ganz gewiss dazu.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine entspannte Lektüre und viel Freude beim Heben der Schätze.

Ihr

Rafael Ball

Über Rafael Ball

Rafael Ball studierte die Fächer Biologie, Slawistik und Philosophie an den Universitäten Mainz, Warschau und Smolensk. 1994 wurde er am Institut für Allgemeine Botanik der Universität Mainz zum Dr. rer. nat. promoviert. Bekannt ist er für seine Ideen zur Bibliothek der Zukunft, zur Wissenschaftskommunikation und zur heutigen Rolle des gedruckten Buches. Er ist außerdem Chefredakteur der Zeitschrift B.I.T.online.